Wofür du stirbst
intimsten Momenten und kenne ihre Körper besser als ihre eigenen Ehemänner, Partner oder Mütter. Ich sehe Dinge, die sie selbst nie gesehen haben: den Augenblick, in dem sich ihr Körper Stück für Stück offenbart, sich wie eine Blume öffnet und seine ganze innere Schönheit darlegt.
Manchmal rede ich mit ihnen, auch wenn sie mich natürlich nicht hören können. So kann ich mich daran erinnern, dass sie Menschen sind oder einmal waren, auch wenn sie vom rein wissenschaftlichen Standpunkt aus sehr schnell zu einem Objekt des Verfalls werden. Vermutlich erregen sie mich, wenn sie den Punkt erreicht haben, an dem sie aufhören, Mensch zu sein – wie immer man diesen Punkt auch definieren will. Ich frage mich, warum mir der Gedanke, Geschlechtsverkehr mit einem anderen Menschen zu haben, so schwerfällt – dabei kann ich es mir durchaus vorstellen, wenn sie dieses Stadium erreicht haben.
Ich höre schon Ihre nächste Frage. Was ist mit dem Geruch? Zumindest wäre das die Frage, die ich an Ihrer Stelle hätte.
Sie riechen natürlich alle anders, das macht einen Teil des Reizes aus. Obwohl es ein durchdringender Geruch ist, der lange in der Nase verweilt, kann man eine Veränderung feststellen, die sich während des fortschreitenden Verwesungsprozesses entwickelt. Manchmal riecht es nach ranzigem Käse, Kotze, verfaultem Fleisch, sogar süßlich wie ein exotisches Dessert, das man aber nicht unbedingt versuchen will. Der Geruch von verfaulendem Essen widert mich natürlich an. Es riecht zwar ähnlich, ist aber längst nicht so anziehend.
Bei meinen Besuchen trage ich immer dieselbe Kleidung, die ich oft wasche. Der Geruch setzt sich im Stoff fest, genau wie der Geruch eines Liebhabers, nehme ich an, und sosehr ich diesen Geruch auch genieße, kann ich nicht riskieren, dass er auch anderen auffällt.
Doch es stimmt nicht ganz, was ich gesagt habe, als ich erzählte, dass ich den Geruch niemals unerträglich fände. Einen gab es, Robin hieß er, glaube ich. Er war Alkoholiker, hochintelligent und wäre bestimmt ein geistreicher Gesprächspartner gewesen, wäre sein Leben weniger tragisch verlaufen. Mir war das Ausmaß seines Alkoholismus nicht bewusst gewesen, bis er zu verwesen begann und der Gestank seiner vergorenen Leber ganz anders war als alles, was ich bisher gerochen hatte. Selbst ich konnte ihn kaum ertragen. Also kam ich immer seltener vorbei, doch es wurde bei jedem Mal schlimmer, bis ich meine Besuche völlig einstellte.
Gestern Abend verbrachte ich seit Langem wieder mehr Zeit mit Maggie. Ich fing zu reden an und konnte gar nicht mehr aufhören. Sie ist eine hervorragende Zuhörerin.
Am Ende kam ich erst sehr spät nach Hause und schlief am nächsten Morgen folglich länger.
Nach dem Mittagessen beschloss ich aus einer Laune heraus, meine Mutter in Larches zu besuchen. Ich fand das eine willkommene Gelegenheit, um mich von den Sorgen wegen der Polizeiermittlungen abzulenken.
Sie schlief aufrecht sitzend in einem Stuhl im Aufenthaltsraum und hielt ihren Kopf in einem seltsamen Winkel abgeknickt. Ein paar ältere Damen verfolgten ein Fußballspiel auf einem großen Fernseher, der so laut gestellt war, dass jede Unterhaltung unmöglich wurde. Ich zog einen Schemel heran, setzte mich neben meine Mutter und hoffte, sie würde während der halben Stunde nicht aufwachen, die ich für eine angemessene Besuchszeit hielt. Weil ich nichts Besseres zu tun hatte, sah auch ich mir das Fußballspiel an, doch es war unglaublich langweilig.
Als ich das nächste Mal zu ihr aufsah, war sie wach und starrte mich an, ohne ihren Kopf bewegt zu haben.
»Hallo, Mutter«, sagte ich.
Sie antwortete nicht, sondern starrte mich nur weiter unverwandt an. In den Winkeln ihres offen stehenden Mundes klebten Essensreste.
Mir fiel plötzlich wieder eine Begebenheit aus meiner Kindheit ein – mein Vater war bereits gestorben, also musste ich bereits ein Teenager gewesen sein –, als meine Mutter mich zwang, einen Topf Kohl zu essen, den ich hatte anbrennen lassen. Aus irgendeinem Grund war sie davon ausgegangen, dass ich für das Abendessen verantwortlich war, solange sie nebenan mit einer Freundin plauderte. Als sie zurück in die Küche kam, war diese mit gelbem, faulig riechendem Rauch erfüllt, und der Topf knisterte auf dem Herd. Ich war im Arbeitszimmer, las ein Buch und hatte nichts davon bemerkt.
Kurz darauf stellte sie das Abendessen vor mich auf den Tisch und drückte mir eine Gabel in die Hand, mit der ich den
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