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Wofür es sich zu leben lohnt

Wofür es sich zu leben lohnt

Titel: Wofür es sich zu leben lohnt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Pfaller
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zweitens erträglich beziehungsweise annehmbar zu machen.
    4 . Schenken als »Entgiften«
    Eine der Möglichkeiten, einen Überschuss annehmbar zu machen, besteht gerade darin, das überschüssige Objekt zu verschenken. Der erwähnte Regenschirm, der ungut wirkt, solange er in meinem Besitz bleibt, wird zu einem freudigen Objekt, sobald er dem zu beschenkenden Freund übergeben ist. Diese »Entgiftung« der Objekte durch ihre Weitergabe – Marcel Mauss hatte, wie vor ihm Ralph Waldo Emerson, auf die Ambivalenz hingewiesen, die dem englischen Wort »gift« und dem gleichlautenden, verwandten Ausdruck im Deutschen innewohnt (s. Mauss [ 1925 ]: 123 ) – spielt eine entscheidende Rolle in alltagskulturellen ästhetischen Praktiken wie auch in der Kunst. Wenn ich zum Beispiel eines Tages die Mülltonne vor meinem Haus öffne und darin eine lebensgroße, etwas abgenutzte Kleiderpuppe aus den 50 er Jahren finde, so ist vorstellbar, dass ich dieses Objekt an mich nehme. Wahrscheinlich ist weiter, dass ich, falls in nächster Zeit eine Einladung bevorsteht, diese Puppe als Geschenk mitbringen werde. Das Kitschige der Puppe, oder das, was an ihr, wie man in Kreisen wie meinen sagt, »so daneben ist, dass es schon wieder gut ist«, wird durch das Schenken aufgehoben, sozusagen »sublimiert«. Freilich haben nun die Beschenkten die Bürde dieser Gabe zu tragen. [158] Wegwerfen dürfen sie sie nicht, da sie doch ein Geschenk ist; wahrscheinlich würden sie sich aber beeilen, jedem neuen Besucher genau das schnellstens zu versichern. Ähnlich würde es mir selbst ergehen, wenn ich keine nahe Gelegenheit zum Weitergeben der Puppe vorfände und sie also zu mir nach Hause brächte. Ich würde jedem meiner Gäste eilig mitteilen, dass ich sie in der Mülltonne gefunden habe. Das Finden würde nun eine ähnliche Rolle spielen wie das Beschenktwerden: Ich könnte mich dadurch von dem Verdacht befreien, dieses Ding aus eigenem Antrieb und mit meinem eigenen Geld in einem einschlägigen Geschäft erworben zu haben.
    Dies ist ein entscheidendes ästhetisches Moment in den sogenannten »Ready-mades« der klassischen Avantgarde, den mehr oder weniger gefundenen, meist leicht modifizierten Objekten von Marcel Duchamp und Man Ray: Es sind Objekte, die ihre ästhetische Konsistenz und Annehmbarkeit nur aus dem Umstand beziehen, dass sie gefunden wurden bzw. dass es hohe Anteile von Vorgefundenem an ihnen gibt. Würden wir, im Gegenteil, wissen, dass die Künstler viel Planung und handwerkliche Arbeit investiert haben, um zu diesen Resultaten zu gelangen, so wäre ihr Reiz wohl dahin. Ihr Gefundensein verschafft ihnen den Status eines glücklichen, unbeabsichtigten und unverdienten Gewinns, eben den eines Geschenks: darum trägt eines der berühmtesten Ready-mades von Man Ray 1921 den programmatischen Titel »cadeau« (Geschenk). Es ist überdies bezeichnend, dass gleichzeitig mit Man Ray auch der Dadaist Walter Serner sich in seiner juristischen Doktorarbeit »Die Haftung des Schenkers« mit dem Thema beschäftigte – wenige Jahre, bevor Mauss seinen »Essai sur le don« verfasste.
    Diese ästhetische Notwendigkeit des zufälligen Vorfindens und mithin Beschenktseins, im Gegensatz zu einer beabsichtigten Produktion und Aneignung hatte bereits Immanuel Kant in seiner »Kritik der Urteilskraft« hellsichtig bemerkt: Der Gesang der Vögel gefällt uns, obwohl wir ihn (was Kant als Bedingung für die Empfindung von Schönheit auffasst) »unter keine musikalische Regel bringen können« – er gefällt uns wohl deshalb, weil wir darin, wie Kant erklärt, »vermutlich unsere Teilnehmung an der Lustigkeit eines kleinen beliebten Tierchens mit der Schönheit seines Gesanges« vertauschen (Kant [ 1790 ]: §  22 ). Sobald wir aber entdecken müssen, dass nicht der Vogel der Verursacher des bezaubernden Gesanges war, sondern vielmehr ein geschickter menschlicher Nachahmer, dann verliert sich alle Schönheit schlagartig und es passiert, dass das Artefakt »unserm Ohre ganz geschmacklos zu sein dünkt« (Kant, ebd.). Auch in diesem Fall ist das Vorfinden, das Unbeabsichtigte, das Nichtgemeintsein, der Zufall einer den zusammentreffenden Elementen völlig äußerlichen »rencontre« im Sinne Althussers (s. Althusser [ 1982 ]) – mithin der Charakter einer Gabe – entscheidend für deren ästhetische Annehmbarkeit.
    5 . Schenken als Vergiften
    In auffälligem Gegensatz zu dieser ermöglichenden, annehmbar machenden Dimension des Schenkens steht

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