Wofuer es sich zu sterben lohnt
konnte etwas ma chen. Sie blieb sitzen, bewegungslos, mit Sebbes Hand in ihren teuren, tief sitzenden Jeans. Sein Finger drückte ge gen das weiche Ende ihres Steißbeins. Es war eine Stelle, wo sie überhaupt keinen Finger spüren wollte, Sebbes schon gar nicht.
Die Frau auf dem Podium sprach jetzt darüber, dass man sich so wertvoll fühlen kann, dass man andere dadurch zwingt, einem Respekt zu erweisen.
Und was glaubte die alte Kuh, was Cecilia tun sollte? Auf springen und schreien? Sebbe würde alles abstreiten. Seine Kumpels würden die Mützen abnehmen und so unschul dig lächeln wie immer. Sie würden bezeugen, dass nichts geschehen war. Dass Cecilia nur versuchte, sie in schlech tes Licht zu rücken, ohne jeden Grund. Aussage würde ge gen Aussage stehen.
Und dann würde sie in jeder Pause daran erinnert wer den, was sie getan hatte. Die Jungs würden mit den Händen fuchteln und ihren Schrei nachahmen oder laut und albern ihre Stimme nachmachen: »Hilfe, ich hab Sebbes widerli che Hand in der Hose.« Sie hatte gesehen, wie das ande ren passiert war, und deshalb blieb sie lieber still sitzen. Es standen nur noch zwanzig Minuten aus, und vermutlich würde er der Sache überdrüssig werden, wenn sie einfach nicht reagierte. Eine andere Möglichkeit gab es nicht.
Die schwarz gekleidete Matilda, die neben ihr saß, sah das, was der Lehrer nicht gesehen hatte, und schon rutschte es ihr heraus, ehe sie sich das überlegen konnte:
»Verpisst euch und krepiert, ihr Ärsche!«
Das kam so laut heraus, dass die halbe Reihe es hörte, es kam mit solcher Kraft, dass sie selbst erschrak.
Später musste sie immer wieder an diese Worte denken. Hatte das, was später passierte, in diesem Moment ange fangen, gerade in diesem Moment?
Matilda. Die alte Matilda hätte das niemals sagen kön nen, zu niemandem. Die neue Matilda konnte es offen bar. Vielleicht war es mit Menschen wie mit Gegenstän den aus Glas - erst, wenn sie zerbrochen waren, wurden sie gefährlich.
»Verpisst euch und krepiert, ihr Ärsche.« Die neue Matil da hatte gesprochen.
Aber diese großen Worte waren keine Hilfe. Um zu zei gen, wie wenig sie ihn beeindruckten, versuchte Sebbe, sei ne Hand noch weiterzuschieben. Das ging nicht, die Hose war zu eng. Er beugte sich also vor und flüsterte:
»Was passt dir denn hier nicht? Wir wissen, was du willst …«
Noch mehr Kichern.
Der Lehrer starrte einige Mädchen an, die losprusteten, als die Frau auf dem Podium erzählte, wie sie selbst mit unerwünschten Annäherungsversuchen umging. Es woll te ihnen einfach nicht in den Kopf, dass irgendjemand die Alte scharf finden könnte.
Und jetzt kam sie zum Ende.
»Wenn ihr über diese Fragen mit Erwachsenen sprechen möchtet, dann könnt ihr euch an Louise Alm wenden, die Schulpsychologin. Ihr kennt sie sicher schon.«
Die Schulpsychologin, die jetzt auf das Podium stieg, war klein und dünn. Die Schülerinnen und Schüler fanden sie alt. Die älteren Mitglieder des Kollegiums fanden sie jung und hilflos mit ihrem kleinen, symmetrischen Gesicht und ihrem schmächtigen Körper.
Sebbe zog seine Hand zurück - jetzt hatte er eine lusti gere Beute erspäht. Aber Juri hob abwehrend die Hand, er war nicht in der Stimmung zu mehr, sondern wollte nur noch weg hier.
Während der Rektor hinter das Mikrofon federte und ei nen nichtssagenden Blumenstrauß überreichte, fingen die Schüler an zu reden, ihre Kleider zurechtzurücken, aufzu stehen, um als Erste die Aula zu verlassen. Endlich war das letzte Wort gesagt, und alle stürzten hinaus zu ihren ei genen Unternehmungen. Sie stupsten, drängten, rannten und sprangen.
Mitten im Gewühl gingen Juri, Helena, Sebbe und Jamal. Sie gingen langsam, und die Menge teilte sich um sie he rum. Auf der Treppe nach unten begegneten sie jemandem, der nach oben wollte. Er war in Gedanken vertieft, bahnte sich einen Weg durch die Gegenströmung und schien für einen Moment mit Juri auf Kollisionskurs zu sein. Als er seinen Irrtum erkannte, machte er auf dem Absatz kehrt und rannte so schnell nach unten, dass er die letzten Stu fen fast hinuntergefallen wäre.
Sebbe lachte.
»Habt ihr gesehen! Jetzt kackt er sich in die Hose!«
Juri ging einfach weiter, er hatte den Arm um Helenas Schulter gelegt und die Mütze tief ins Gesicht gezogen, er trug eine schwarze Trainingshose und vermutlich die teu ersten Turnschuhe der ganzen Schule.
Theo sah sie gehen, und sein Rücken spürte noch immer Juris breiten Finger.
Im
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