Wofuer es sich zu sterben lohnt
dieses Tages abgesagt, erzählte sie, sie stand zu sehr unter Schock durch das Geschehene, um so aufmerksam zuhören zu können, wie es nötig wäre.
Monika konnte sich den Kommentar nicht verkneifen, dass viele Schüler Juris Tod offenbar für eine gute Nach richt hielten.
Die Psychologin nickte.
»Ja, das ist ja das Schreckliche - was lernen sie daraus? Dass Gewalt nur durch Gewalt erwidert werden kann? Wir wagen ja nicht einmal, eine Trauerfeier anzusetzen.«
Sie wagen nicht, eine Trauerfeier anzusetzen? Haben die Erwachsenen an dieser Schule eigentlich gar nichts zu sa gen?
»Können Sie mir von dem Fest am Freitagabend erzäh len?«
»Was möchten Sie wissen?«
»Ob Sie Theo GebreSelassie gesehen haben? Ob Sie et was bemerkt haben, das wichtig für das später Geschehe ne gewesen sein kann? Ob Sie Juri gesehen haben? Wann Sie die Tagesstätte verlassen und was Sie dabei gesehen ha ben? Zum Beispiel.«
»Ich bin fast direkt nach dem Essen gegangen, ich fand, ich hätte meine Pflicht getan. Vorher habe ich natürlich beim Aufräumen geholfen …«
Ja, natürlich, dachte Monika, wie würde das auch aus sehen, wenn die Psychologin einfach verschwand und die Arbeit den anderen überließ?
»… dann habe ich mich verabschiedet und bin gegan gen.«
»Wissen Sie, wie spät es war?«
Die Psychologin zögerte.
»Nein. Zehn, halb elf vielleicht.«
Eine unerwartete kleine Warnglocke läutete in dem Teil von Monikas Gehirn, der Tausende von Vernehmungen re gistriert hatte. Die Frau, die da vor ihr saß, musste doch wissen, dass es eine entscheidende Rolle spielte, ob sie um zehn Uhr gegangen war, vermutlich unmittelbar ehe Juri um die Ecke gebogen war und seine letzte kurze Wande rung in das schicksalhafte Dickicht begonnen hatte, oder ob sie eine halbe Stunde später aus dem Haus getreten war, eine Viertelstunde ehe Vivi und Jonatan Juris Leichnam ent deckt hatten.
Hier standen sie am ersten interessanten Kreuzweg in diesem Gespräch - sollte sie gleich zur Sache kommen oder einen Umweg versuchen? Sie entschied sich für den Um weg.
»Wie sind Sie nach Hause gekommen?«
Treffer! Die Psychologin riss die Augen auf, als hätte Mo nika einen Knüppel hervorgezogen und fuchtelte jetzt da mit herum. Sie zögerte.
»Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Sie einfach so hier auftauchen würden, unangemeldet. Ich bin nicht vorbe reitet …«
Umso besser, dachte Monika und fügte in Gedanken hin zu: Wer sonst nicht lügt, sollte nicht gerade bei der Polizei damit anfangen.
»Wie sind Sie also nach Hause gekommen?«
»Ich habe die U Bahn genommen.«
Monika ließ sich im Sessel zurücksinken und das Schwei gen die Arbeit verrichten. Sie dachte, sosehr die Psycho login auch lügen mochte, sie konnte Juri wohl kaum er stochen haben. Sie war viel zu klein und zierlich. Monika ließ ihren Blick auf der Psychologin ruhen. Die reagierte, als säße sie im grellen Scheinwerferlicht in einem dunklen Raum. Ab und zu war nicht viel nötig.
»Was bist du gemein geworden«, sagte Babs.
»Stör mich nicht, ich arbeite«, antwortete Monika, und Babs verschwand.
Die Psychologin war über ihren Schreibtisch gesunken und schlug die Hände vors Gesicht.
»Ich bin abgeholt worden«, sagte sie so leise, dass Moni ka sie fast überhört hätte.
Jetzt nahm die Sache doch Form an!
»Hatten Sie einen Zeitpunkt verabredet?«
Kopfschütteln.
»Haben Sie angerufen, als Sie fertig waren?«
Wieder Kopfschütteln.
»Sind Sie angerufen worden, weil Sie abgeholt werden sollten?«
Die Psychologin richtete sich langsam auf und nickte. Ihr Widerstand war gebrochen, das war jetzt der pure Ab fahrtslauf, vernehmungstechnisch gesehen. So hoffte Mo nika jedenfalls.
»Wurden Sie auf Ihrem Mobiltelefon angerufen?«
Ein bestätigendes Nicken.
»Können Sie nachsehen und mir genau sagen, zu wel chem Zeitpunkt der Anruf gekommen ist und wer ange rufen hat?«
Zierlich, aber gesund, hoffte Monika. Sonst bestand be stimmt ein gewisses Risiko für akuten Herzinfarkt oder eine andere stressbezogene Todesursache.
Zum ersten Mal vermisste Monika einen Kollegen - das hier lief fast zu gut, und ihre Arbeitsmethoden waren weit entfernt von Regeln und Empfehlungen.
»Das war mein Freund. Er hat um zehn Uhr fünfundzwan zig angerufen. Ich wurde um fünf nach halb abgeholt.«
»Und warum wollten Sie das nicht erzählen?«
»Ich will mein Privatleben hier nicht hereinziehen.« Monika wartete, aber weitere Informationen kamen nicht.
»Wohnen Sie in
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