Wofür stehst Du?
entscheiden; kein türkisches oder bosnisches Kind hätte da die geringste Chance, schon aus Kostengründen. Und wenn Eltern mit ihren Kindern nicht an private Institute fliehen, weil sie das auch nicht immer können, so verlassen sie doch oft zumindest jene öffentlichen Schulen, die ihnen nicht mehr aussichtsreich oder überhaupt erträglich scheinen. Ende 2008 beklagten 68 Schulleiter im Berliner Bezirk Mitte in einem Brief an den Regierenden Bürgermeister die Gettoisierung ihres Bezirks.
Wobei ich nichts gegen private Schulen habe. Zwei meiner Kinder waren Waldorfschüler, indes vor allem, weil wir, als sie eingeschult wurden, beinahe neben einer Waldorfschule wohnten, während die nächste Staatsschule nur mit dem Bus erreichbar war. Aber natürlich auch, weil wir damals den Traum von einer anderen Schule vor Augen hatten, besser als die, die wir selbst erlebt hatten.
Was aber, wenn das Bildungssystem immer weniger dazu beiträgt, unsere Gesellschaft durchlässiger und chancenreicher zu machen?
Die Sozialforscherin Renate Köcher hat 2009 konstatiert, die Unterschiede zwischen den sozialen Schichten in Deutschland seien »in den letzten Jahren und Jahrzehnten keineswegs geringer geworden, sondern größer, materiell wie in Bezug auf Weltbilder und Mentalität«. Während die oberen Schichten wohlhabender würden und die Einkommen in der Mittelschicstagnierten, sei das frei verfügbare Geld einer Familie in den unteren Schichten sogar in Wirklichkeit niedriger als Mitte der Neunzigerjahre.
Was aber viel wichtiger ist: In diesen unteren Schichten gebe es, so Köcher, einen »Statusfatalismus«, der gesellschaftlichen Aufstieg weitgehend ausschließe. Aufstiegschancen würden »eher in der Mittel- und Oberschicht angesiedelt als in der Schicht, für die der Aufstieg wirklich eine völlige Veränderung ihrer Lebenslage und Aussichten bedeutete«.
Nach wie vor hängen Bildungsweg und schulische Erfolge der Kinder in Deutschland, anders als in vielen anderen Ländern, eng mit der Schichtzugehörigkeit und dem Bildungshintergrund des Elternhauses zusammen, ein Satz, den ich heute so schreiben kann wie ich ihn in den Achtzigerjahren als bildungspolitischer Redakteur der Süddeutschen Zeitung geschrieben habe. Wenig hat sich seitdem verändert, im Gegenteil.
Das Führungspersonal unserer Wirtschaft rekrutiert sich zu mehr als drei Vierteln aus der oberen Bürgerschicht, die Elite bleibt unter sich. Eine großeMehrheit der unteren zwanzig Prozent der deutschen Gesellschaft, schreibt Köcher, »bekennt sich freimütig dazu, sich kaum mit gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen zu beschäftigen, sondern ausschließlich mit dem eigenen Nahbereich«.
Die Duisburgerin Lamya Kaddor, die als muslimische Religionspädagogin an einer Hauptschule im Problemviertel Lohberg arbeitet und unter dem Titel Muslimisch – weiblich – deutsch! ein Buch über einen moderneren Islam in Deutschland schrieb, hat dem Berliner Tagesspiegel einmal auf die Frage geantwortet, warum sie, trotz ähnlicher familiärer Voraussetzungen, sich selbst so anders entwickelt habe als viele ihrer jetzigen Schüler: »Als ich acht Jahre war, sind wir in einen Stadtteil gezogen, wo es eine gute Schule gab. Das war mein Glück, so bin ich nicht in einem Getto aufgewachsen wie viele meiner Schüler. Alle um sie herum sind so wie sie. Keiner ist klüger, ehrgeiziger. Alle leben in den Tag hinein. Meine Eltern kommen aus Syrien, aus dem städtischen Umfeld. Sie sind auch schulisch ungebildet. Aber Disziplin, sich bilden – das war ein großer Wert bei uns. Ich wurde immer gefragt, wie eine Klausur gelaufen ist, meine Mutter war hinterher, dass ich Hausaufgaben mache, auch wenn sie inhaltlich nichts verstanden hat.«
Ungleichheit ist heute für viele kein Ansporn mehr, sie lähmt. Und wir akzeptieren resigniert, dass in Deutschland fast jedes sechste Kind unter fünfzehn Jahren von Hartz IV lebt und dass viele von dieser prägenden Lebenserfahrung vielleicht später nicht mehr loskommen werden.
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Meine Krankheit namens Angst
oder
Warum Anna mir half, aber ich nicht ihr
Als die große Angst ihn zum ersten Mal erfasste – dies erzählt mir R. (der damals noch nicht mein Freund war, es aber bald wurde) –, habe er nicht gewusst, dass es Angst gewesen sei. Etwas habe ihn angesprungen wie ein wildes Tier, sei in ihn eingedrungen, habe ihn ausgefüllt und, wie er dachte, zu töten versucht. »Du fühlst«, berichtet er über seine damaligen
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