Wofür stehst Du?
monatelang kniehoch durch Blut gewatet.«
Die Parallele zu kriegerischen Auseinandersetzungen ist natürlich eine Gemeinheit, vielleicht auch unzulässig, ich weiß das. Aber es gibt doch eine Gemeinsamkeit zwischen Menschen, die Soldaten in den Krieg schicken, und Führungskräften, die ihre Mitarbeiter entlassen: Aus der Perspektive der Opfer ist ihr Tun nur sehr schwer zu rechtfertigen. Welcher der Verantwortlichen fände zum Beispiel noch Worte für den Militärschlag in der Nacht vom 4. auf den 5. September 2009, wenn er zum Beispiel vor Abdul Hanan stünde, der noch vor Sonnenaufgang die Leichen seiner beiden Söhne Sanullah, 11 Jahre alt, und Abdul Daian, 13 Jahre alt,und weiterer Verwandter südlich von Kunduz fand? Sie waren in der Nacht elendig verbrannt, als amerikanische Kampfjets auf Anforderung eines deutschen Kommandeurs in Afghanistan zwei von Taliban entführte Tanklastzüge bombardiert hatten.
Also flüchten sie sich in Distanz zum Tatort und in übergeordnete Begründungen, etwa für die Mission der Bundeswehr in Afghanistan. Das Problem ist aber nicht, dass es keine guten Gründe für den Einsatz gäbe, humanitäre wie militärische. Das Problem im Krieg wie in der Wirtschaft ist, dass die Kluft zwischen Begründung und Realität einer Entscheidung mit der Zeit immer größer wird. Kaum einer kann die Lücke argumentativ schließen, ohne in Gewissensnot zu geraten. Weil es jedoch nur wenige Menschen vermögen, ständig ihr Gewissen zu befragen (schon aus Mangel an Gelegenheiten), fangen die meisten an, sich selbst zu belügen.
Nur ein Sadist könnte es fertigbringen, die angeblich zum Sozialfall gewordene Sechzigjährige von ihrer Stelle zu drängen, wäre ihm die Frau vorher persönlich bekannt gewesen. Hätte er von ihr persönlich ihre Not erfahren – dann erginge es ihm wahrscheinlich wie dem Unternehmensberater H. Führungskräfte versuchen deshalb, anders als die Inhaber kleiner Betriebe, die ihre Mitarbeiter ständig bei der Arbeit beobachten können, ihre Entscheidungen gerade nicht aus der Perspektive des Einzelnen zu begründen, sondern aus übergeordneten Erwägungen: Wenn ich jetzt nicht zehn Prozent des Personals entlasse, dann ist die Existenz aller im Unternehmen bedroht, nicht nur die jener zehn Prozent, die von der Kündigung betroffensind. Meine Pflicht ist es, das Auskommen der großen Mehrheit abzusichern.
Natürlich ist das sehr oft die Wahrheit. Aber eben nicht immer die ganze. Der Chef weiß nämlich auch: Manchmal hängen seine eigene Weiterbeschäftigung und seine Jahres-Tantieme davon ab, dass er im Unternehmen rationalisiert. Meistens muss er das tatsächlich tun, weil der Markt ihn dazu zwingt; manchmal aber nur, um einer zuvor noch undenkbaren Renditeerwartung gerecht zu werden, und in seltenen Fällen auch im vollen Bewusstsein darüber, dass die geforderten Entlassungen eine Fehlentscheidung sind (oder die Konsequenz eines vorangegangenen Fehlers desselben Managements). Ich kenne kaum Geschichten, bei denen die Verantwortlichen dann ihrem Gewissen gefolgt wären.
Wenn Gerechtigkeit weniger ein Zustand als ein Prozess ist, dann muss, finde ich, unsere größte Sorge sein, dass dieser Prozess funktioniert. Es muss also möglich sein, dass die inneren Kräfte jedes Menschen geweckt werden und dass er aus ihnen etwas machen kann. Unsere Gesellschaft muss eine Gesellschaft der fairen Chancen sein, der individuellen Entwicklungsmöglichkeiten. Aber ist sie das?
Nein, sie entwickelt sich sogar in die andere Richtung. Viele Untersuchungen, noch mehr persönliche Wahrnehmungen weisen darauf hin, dass sich die Schichten in Deutschland voneinander abschotten, dass es nicht leichter, sondern schwieriger wird aufzusteigen, und dassunser Bildungssystem diese Entwicklung nicht ändert, sondern geradezu zementiert.
Als ich zur Schule ging, war es normal, dass Kinder aller Schichten gemeinsam zur staatlichen Schule gingen. Private Schulen und Internate waren etwas für den Nachwuchs reicher Leute, dessen Begabungen nicht ausreichten, um auf einer Staatsschule zu reüssieren, oder dessen Eltern weder Zeit noch Lust hatten, sich um die Kinder zu kümmern.
Heute kenne ich viele Wohlhabende, die ihre Kinder von vorneherein auf private Schulen schicken oder ihnen mit viel Geld einige Jahre auf englischen Colleges ermöglichen. Der Mangel an Kindertagesstätten lässt private Kindergärten aus dem Boden schießen, in denen die Eltern selbst über die Aufnahme neuer Kinder
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