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Wofür stehst Du?

Wofür stehst Du?

Titel: Wofür stehst Du? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giovanni di Lorenzo Axel Hacke
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Empfindungen, »es ist zu Ende. Du hältst es nicht mehr aus. Was, weißt du nicht. Du denkst: Weg, nichts wie weg von hier. Wohin, weißt du nicht. Aber weg.«
    Er fuhr mit der U-Bahn zur Arbeit, als sein Herz plötzlich zu rasen begann. Überall brach ihm Schweiß aus. Er versuchte, ein normales Gesicht zu machen, sich normal zu bewegen. Im Büro war es nicht mehr zu ertragen. Er bat die Sekretärin, ein Taxi zum Hospital zu rufen. Dann legte er sich auf den Boden und dachte an den Tod. Er glaubte, am Herzinfarkt zu sterben. Ein Notarzt brachte ihn ins Krankenhaus. Dort wurde er sofort ruhig. Zehn Tage lang untersuchte man sein Herz, seinen Kreislauf, sein Hirn, ergebnislos. Er sei gesund,hieß es. Er packte seine Sachen, verließ das Haus, stieg in die U-Bahn.
    Und bekam sofort den nächsten Anfall.
    R. sitzt, während er das erzählt, gelassen am Tisch eines Kaffeehauses. Er hebt den Arm, zeigt in die Richtung der Treppe und sagt, in den Jahren, die folgten, habe es Tage gegeben, an denen hätte er nicht aufstehen und von hier zur Toilette gehen können. Immer wieder sei er von jener Panik attackiert worden, so schlimm oft, dass er sich – er packt den Tisch mit beiden Händen – habe festhalten müssen, derartig habe es ihn geschüttelt.
    Es? Was? Er habe es nicht gewusst. Er schlief kaum noch, lief nachts durch die Straßen, verließ Frau und Kind, wohnte bei einem Freund. Aber er konnte, gerade noch, seinem Beruf nachgehen, als Geschäftsführer eines großen Interessenverbandes. Manchmal kamen die Anfälle mitten in einem Meeting. Niemand merkte, dass da einer saß, der dem Tod ins Auge zu blicken glaubte, während die anderen diskutierten. Schließlich stand er nachts am offenen Fenster und dachte: Nun springst du, damit ein Ende ist.
    Denn der Tod ist der einzige Ort, an dem man den Tod nicht fürchten muss.
    Etwas hielt ihn zurück. Er fuhr, weil er sich inzwischen einfach für verrückt hielt, in eine psychiatrische Klinik. Man versorgte ihn mit Tranquilizern, »das ließ mich schlafen«. Er begann eine Verhaltenstherapie, brach sie ab, begann eine Psychoanalyse, brach sie nicht ab, hörte, nach einem Jahr, von einer Selbsthilfegruppe, in der sich Leute zusammengeschlossen hatten, die unter chronischer Angst litten.
    Dorthin ging er.
    Sie waren zu acht. Alle erzählten Geschichten wie seine. Zum ersten Mal wurde ihm klar, womit er kämpfte: mit einer rasend gewordenen, brutalen Macht namens Angst. Niemand könne sich vorstellen, was die Gruppe für ihn bedeutet habe, »lauter normale, sympathische Leute wie du und ich«, sagt er. »Es war eine unglaubliche Hilfe zu sehen, dass ich nicht verrückt bin.« Er wisse heute, dass es eine Menge Leute gebe, auch Manager in hohen Positionen, die krank vor Angst seien.
    Und die mit niemandem darüber redeten.
    Für ihn aber bedeutete es die Rettung, zu sehen, dass er mit seinem Leiden nicht allein war.
    Meine Geschichte mit Anna gibt mir nach vielen Jahren noch das Gefühl, gefehlt zu haben, wenn auch auf eine ganz geschickte Art und Weise: Vorwerfen kann man mir wenig, ich habe ja nichts gemacht. Aber genau das ist das Problem.
    Ich lernte Anna Ende der Neunzigerjahre kennen, und sie gefiel mir sehr: hübsch, witzig, fröhlich, sehr sensibel, ausgesprochen erfolgreich in ihrem Beruf als Artdirektorin. Wir gingen einige Male zusammen aus, aber uns beiden fehlte der Mut, eine Affäre zu beginnen.
    Es war, glaube ich, der letzte Abend, an dem wir verabredet waren; wir kehrten bei meinem Lieblingsitaliener ein. Am Nebentisch hielt ein Regisseur Hof, mit dem ich damals befreundet war. Ich stellte ihm Anna vor. Später, als sie für einen Moment den Raum verlassenhatte, kam er plötzlich an meinen Tisch und flüsterte: »Lass bloß die Finger von der, die ist total gestört.«
    Ich fand das anmaßend, kränkend. Er hatte Anna noch nie zuvor in seinem Leben gesehen.
    »Wie kommst du darauf?«, fragte ich. »Was meinst du damit?«
    »Es ist mein Beruf, Menschen zu durchschauen«, sagte er.
    Wir redeten nicht weiter, Anna kehrte zurück. Ich vergaß diese Sätze, erst heute fallen sie mir wieder ein.
    Dass Anna psychisch krank sein könnte, kam mir offenbar nicht in den Sinn. Was mir wohl auffiel und natürlich gefiel, war ihr ungewöhnliches Einfühlungsvermögen: Sie wusste oft sehr genau, was mit mir los war, in diesen Monaten, in denen ich neu war in der Stadt und mich manchmal verloren fühlte, auch wenn ich es nicht aussprach. Ihr Vater war, wie meiner, kein

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