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Wofuer wir kaempfen

Wofuer wir kaempfen

Titel: Wofuer wir kaempfen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tino Kaeßner , Antje Kaeßner
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redet auch nicht mit mir.‹ Und da habe gesagt: ›Erstens müssen Sie zunächst mal in Ihrer Uniform kommen, um vor meinem Mann zu bestehen – er muss Ihren Dienstgrad sehen. Dass Sie Offizier sind, das wird ihn fordern als Soldat und zurück in die Spur bringen, so blöd das klingt – es ist einfach in ihm drin, dass er einem ranghöheren Offizier, der Autorität ausstrahlt, antworten muss, egal in welchem Zustand.‹ Der Arzt kam tatsächlich in Uniform und Stefan reagierte. Die beiden Männer haben lange und intensiv miteinander geredet. Wenig später konnte mir der Arzt das Schlimmste bestätigen: ›Ich glaube, wenn Ihr Mann heute hätte aufstehen und das Fenster aufmachen können, dann wäre er gesprungen.‹ Nach einer Pause fuhr er fort: ›Ich meine, es ist jetzt das einzig Richtige, seine Jungs zu ihm zu lassen.‹ Ich war hin- und hergerissen, weil für mich als Mutter natürlich auch die Frage eine Rolle spielte, ob ich meinen Kindern zumuten konnte, ihren Vater in diesem Zustand zu sehen. Würden sie einen Schock fürs Leben bekommen, ihn womöglich ablehnen, weinen und alles noch verschlimmern? Die Lungenmaschine, das deutliche Nichts unter der Bettdecke, wo früher seine Beine gewesen waren, die Brandwunden, die blutigen Krusten am Ohr. Wie konnten wir sicherstellen, dass weder der Vater noch seine Söhne in Mitleidenschaft gezogen wurden, wenn der Versuch schiefging? Dieses erste Wiedersehen hätte nach hinten losgehen und alles verschlimmern können. Oberfeldarzt Braun hat meine Bedenken zerstreut und etwas ganz Kluges gesagt: ›Kinder sind viel stärker,
als Sie glauben. Die werden in dem Schwerverletzten auf der Intensivstation nur ihren Vater sehen, den Menschen, den sie lieben – alles andere werden sie ausblenden, und da wird nichts bleiben von diesem ersten Eindruck, wenn Ihr Mann später wieder gesund ist.‹
    Ich habe nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass es Stefan war, der im Augenblick die größte Hilfe brauchte, und ich war mir sicher, dass ich die Kinder wieder auffangen könnte – deshalb habe ich zugestimmt. Wir haben dann überlegt, welchen der beiden wir zuerst zu Stefan lassen sollten. Beide Kinder auf einmal erschien uns doch als zu riskant. Auch wollten wir Stefan nicht überfordern. Meine Überlegung war, den Großen zu nehmen – der hatte das stärkste Band zum Vater und war als Baby immer auf seinem Bauch eingeschlafen. Vielleicht würde er es schaffen, Stefan wieder aus seiner tiefen Depression zu reißen.
    So standen wir dann vor Stefans Bett. Mein Sohn ist zu seinem Vater und hat seine Hand in Stefans Hand gelegt – und Stefan hat sie gedrückt. Der Große hat sich zu mir herumgedreht und freudestrahlend losgeplappert: ›Mama, der Papa hat meine Hand gedrückt!‹ Das hatte Stefan die Tage zuvor selbst bei mir kaum gemacht. Und plötzlich fing Stefan an mit seinem Sohn zu sprechen: ›Ja, Spatzl, was machst denn du hier?‹ Dann ist unser Kleiner auch noch rein. Nur für fünf Minuten. Aber die haben es gebracht!«
    Die Pflicht ruft
    Stefan hat später geschildert, was da in ihm passiert ist, als er zum ersten Mal wieder seine Söhne sehen konnte: »Die Jungs sind nicht ängstlich stehen geblieben, haben mich nicht als Monster gesehen – die sind mit leuchtenden Augen auf mich zu, voller Freude, mich zu sehen, haben mich gepackt und mir
einen Schmatzer auf die Stirn gegeben. In diesem Augenblick spürte ich eine unglaubliche Erleichterung; ich war noch ihr Papa, und die Kinder nahmen mich auch so, wie ich war. Ich konnte kaum sprechen – aber meine Kinder haben mir etwas erzählt, ich konnte ihnen Zeichen geben, mit meinem Kopf nicken, ihre Hände drücken. Und das war viel. Als ich meine Kinder angesehen habe und meine Frau, die mir alle gut zugesprochen haben, die mir Mut gemacht haben, wusste ich, ich kann meine Familie jetzt nicht alleine lassen. Da sind noch zwei, die dich brauchen, deine Kinder sollen nicht ohne Vater aufwachsen – ich will noch etwas weitergeben. Da ist deine Frau, die zu dir steht und dich braucht. Das Leben muss weitergehen, ich kann jetzt nicht stiften gehen; und wenn es für mich selbst auch noch so schlimm wird – es muss weitergehen. Diese wenigen Minuten, als unsere Familie wieder zusammen war, gab mir den entscheidenden Stoß.«
     
    Der Vater und seine Kinder – für Stefan war es die Rettungsleine, die ihn aus der Gletscherspalte der Verzweiflung gerettet hat. Am nächsten Tag kam Oberfeldarzt Braun zu Vio und

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