Wofuer wir kaempfen
Explosionszentrum entfernt, als es passierte, und deutlich schwerer verletzt als Tino. Sein Gesicht war aufgequollen durch den Explosionsschock und die vielen Medikamente. Sein früher durchtrainierter Körper schien all seine Kraft verloren zu haben. Nach zwei Wochen im künstlichen Koma war er bis auf die Knochen abgemagert, viel stärker noch als Tino. Er sah aus, als hätte er die vergangenen Monate in einem Straflager verbracht. Ausgemergelt. Schmal. Zerbrechlich.
Und für alle, die ihn zum ersten Mal wiedersahen, war es ein Schock, weil man durch die Bettdecke deutlich sehen konnte, dass beide Beine fehlten.
Ich bin jeden Tag mit Vio in die Intensivstation gegangen. Mit Tino konnte ich reden – Vio saß bei Stefan und hat ihm vorgelesen, in der Hoffnung, dass er im Koma vielleicht doch ihre Stimme hört und merkt, dass da jemand ist, der nach ihm ruft. Aber ich lass Vio mal erzählen, wie sie das selbst alles erlebt hat: »Stefans Gesicht hatte Abschürfungen und im seltsamen Kontrast zu seiner Sonnenbräune kleine Brandverletzungen. Um sein Kinn spross ein Dreitagebart. Als ich an sein Bett kam, war deutlich zu spüren und auch an den Monitoren für die Herzfrequenz zu sehen, dass er ruhiger wurde. Ich habe ihm fortlaufend gesagt: ›Stefan, es ist alles in Ordnung. Du bist in Deutschland. Du bist in Sicherheit. Deine Jungs sind da. Uns geht’s allen gut. Das wird wieder.‹ Jetzt, da ich ihn endlich sah, hatte ich auch meine Ruhe wiedergefunden. Die Stille im Zimmer, das rhythmische Pumpen und Blinken der Apparate versicherten mir, Stefan ist gut versorgt – wenn er an irgendeinem
Ort der Welt eine Chance zum Überleben hätte, dann hier. Ich hatte plötzlich die Zuversicht, dass er es schaffen würde. Ich habe ihm einfach viel erzählt, was so los war in Garmisch, wer sich alles gemeldet hatte und gute Besserung wünschen ließ oder ich habe ihm einfach nur vorgelesen, wenn ich müde wurde. Er war ruhig und entspannt – es war fast so, wie wenn die Kinder eindösen, wenn sie eine Geschichte vorgelesen bekommen. Ich wollte, dass er meine Stimme hört, in der Hoffnung, dass ich ihn irgendwo in seinem Dämmerschlaf erreiche und er sich an mich und an seine Kinder erinnert, dass er weiß, dass er hier noch gebraucht wird. Und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er all das in sich aufnahm, dass sich tief im Inneren wieder ein Bild zusammenfügte, eine Erinnerung an das, was vor dem Unglück unser Leben war. Ich habe ihm vom Eishockeyverein Riessersee berichtet, vom Training seiner Söhne und den Sportteil vom Garmisch-Partenkirchener Tagblatt vorgelesen. Es hatte ihn vor dem Anschlag immer brennend interessiert, wie sich die Kinder beim Eishockey machen. Ich habe ihm erzählt, wie es in meiner Arbeit läuft, wer nach ihm gefragt hat. Die ganzen Genesungskarten habe ich ihm vorgelesen. Ich war sicher, dass Menschen im Koma viel mitbekommen und dass ihm die Nachrichten, die ich ihm übermittelte, ein Stück Leben zurückgeben würden. Ich glaube nach den langen Tagen, die ich so mit ihm verbracht habe, sehr an diese Dinge – ich bin sicher, dass er mich gespürt hat, wenn ich ihn angefasst habe. Immer hatte ich meine Hand auf seiner Hand, damit er mich fühlt, wenn ich ihm vorlese, dass unsere Verbindung wieder da ist. Wir sind früher immer so eingeschlafen. Stefan hat mir aus Afghanistan immer wieder geschrieben, wie sehr ihm das fehlte.
Als ich einmal beim Aufstehen etwas aus dem Gleichgewicht kam und mich aus Reflex in Höhe von Stefans Beinen auf dem Bett abstützte, ging der Griff ins Leere. Da war nichts mehr.
Man streicht ungläubig über die Decke. Leer. Wie würde er damit fertig werden?
Das Aufwachen aus dem Koma war für Stefan ein Schockerlebnis, wie es tiefer nicht sein kann. Wie sich später herausstellte, endeten seine Erinnerungen in dem Moment, als er mit Tino und Armin Franz in Kabul zum Mittagessen ging. Die Fahrt, den ersten Rammversuch des Attentäters, den Anschlag und alles Weitere hat die Explosion für immer aus seinem Gedächtnis gelöscht. Und nun wachte er 14 Tage später und 6000 Kilometer von seiner letzten Erinnerung entfernt in einer völlig unerwarteten Umgebung auf. Das ist ein bisschen so, wie wenn man abends friedlich in seinem Bett einschläft – und auf dem Elfmeterpunkt im Olympiastadion hochschreckt, während Franck Ribéry unter dem Jubel von 70 000 Zuschauern gerade anläuft, um mit deinem Kopf ein Tor zu schießen.«
Tiefe Traumatisierung
Während Tino
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