Wofuer wir kaempfen
sagte mit einem Lächeln: »Jetzt haben wir ihn zurück!«
Das Wiedersehen mit seinen Kindern wurde für Stefans Familie zum Wendepunkt. Schon wenige Tage später konnte er aus der Intensivstation entlassen werden ins Zimmer von Tino. Die Ärzte versprachen sich weitere Unterstützung, wenn die zwei ihre Erlebnisse gemeinsam aufarbeiten würden.
In den Gesprächen der beiden stellte sich bald heraus, was eine weitere Ursache von Stefans selbstzerstörerischen Grübeleien war: dass er an den Anschlag keinerlei Erinnerungen mehr hatte. Sie waren noch nicht im Langzeitgedächtnis gespeichert, als der Explosionsdruck jedes Erinnerungspixel aus Stefans Kurzzeitgedächtnis auslöschte.
Und hier lag Stefans Problem, wie er es ausdrückt: »Die Explosion
hatte mir nicht nur meine Beine genommen, sondern auch einen wichtigen Teil meines Lebens. Denn Leben ist Erinnerung – woran du dich nicht erinnerst, das hast du auch nicht erlebt. Denn erst in der Erinnerung fügen sich die mikroskopischen Teile der Zeit zu diesem Mosaik zusammen, das du als dein Leben ansiehst. Dieses Mosaik ist also bei jedem einzigartig. Wenn man einem Menschen seine Erinnerungen stiehlt, dann stirbt er – auch wenn sein Körper vielleicht noch am Leben ist. Alzheimerpatienten sterben, bevor sie tot sind, weil ihre Erinnerungen zerfressen werden. Meine Erinnerung wurde weggesprengt – man hat mich um einen Teil meines Lebens beraubt. Du erwachst plötzlich aus einem Koma, weißt nicht, was los ist, wo du bist, wie du da hingekommen bist, warum dir alles wehtut, warum du keine Beine mehr hast, was abgelaufen ist. Meiner Erinnerung nach war ich in Kabul gerade auf dem Weg zum Mittagessen in die Kantine im Bundeswehrlager, und dann wachte ich in Koblenz auf. Das ist ein Bruch, mit dem man nur schwer fertig wird. Plötzlich ist man auf Erzählungen angewiesen und muss glauben, was andere sagen. Man wird nie wirklich aus eigener Überzeugung heraus wissen, ob das wahr ist, denn man hat es nicht erlebt – weil die Erinnerung fehlt. Ich glaube alles, was Tino mir erzählt – und trotzdem ist es doch nur das, was er erlebt hat, es sind seine Wahrnehmungen. Mir aber fehlt mein Teil der Geschichte. Meine Gedanken. Meine Gefühle, wie ich die Situation erfasst habe. Mein Tun. Genau deshalb würde ich mich eines Tages doch gerne selbst erinnern, was genau passiert ist. Es ist ein Teil meines Lebens, den ich suche und vermutlich nie wieder zurückbekommen werde – wie meine Beine. Warum will ich meine eigene Erinnerung zurück? Weil ich wissen will, was genau in diesen Sekunden nach dem Aussteigen und der Explosion geschah. Ich will wissen: Habe ich irgendetwas falsch gemacht ? Ich will es nicht nur wissen, ich will es auch spüren,
ich will es sehen in meinen Erinnerungen, um Gewissheit zu haben – aber die werde ich nie bekommen. Die fehlende Erinnerung ist wie der Phantomschmerz in meinen Beinen, ein Schmerz an etwas, was unwiederbringlich verloren ist.«
Stefan konnte sich nicht erklären, was schiefgelaufen war. Er machte sich Vorwürfe, dass er als Kommandoführer versagt hatte und damit verantwortlich sei für das Unglück der in seiner Obhut befindlichen Menschen. Tino hatte den Anschlag bis zur Ohnmacht im US-Feldlazarett bewusst miterlebt und schilderte schon Tage nach dem Erwachen aus dem Koma, wie alles abgelaufen war. Dass alles gestimmt hat, konnte später auch das Bundeskriminalamt in seinem Abschlussbericht bestätigen – die Tatortermittlungen, die Zeugenaussagen in Kabul und die Täterbeschreibung waren nahezu deckungsgleich mit seinen Schilderungen. Wer noch nie so einen Filmriss hatte, wird nur schwer verstehen können, welches Misstrauen und welche Unsicherheiten sich aufbauen, wenn die eigene Erinnerung plötzlich Lücken hat. Die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit scheinen zu verschwimmen. Tino sagte zu Stefan: »Stefan, ich weiß alles – wenn du bereit bist, kann ich dir genau schildern, wie und was passiert ist.« Und dann sind sie jedes Detail der letzten Minuten ihres Einsatzes immer wieder durchgegangen. Tino konnte Stefan beruhigen, dass er nichts, aber auch gar nichts falsch gemacht hatte. Und dass er, Tino, keine Sekunde daran gedacht hätte, Stefan für seine Verletzung die Schuld zu geben. Bis heute sind Stefans Erinnerungen nicht zurückgekommen. Aber er hat gelernt, damit zu leben.
Phantomschmerz und Prothesenhoffnung
Das Tino es »einfach so« akzeptiert hat, seinen rechten Unterschenkel verloren zu haben,
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