Wofuer wir kaempfen
war für mich eine unglaubliche Erleichterung – ich würde meinem Geliebten diese traurige Nachricht nicht schonend beibringen müssen. Der Schock, auf einen Teil des Körpers verzichten zu müssen, den er bei seinen vielen sportlichen Aktivitäten mit Leidenschaft und Ausdauer belastet hatte, schien ausgeblieben zu sein.
Wie es für ihn tatsächlich war, weiß Tino selbst am besten zu berichten: »Wird ein Bein abgeschnitten, bedeutet das erstmal eine riesige Wunde. Ich denke oft an Bilder, wenn nach heftigem Niederschlag oder einem Erdbeben eine Straße abgerutscht ist. Da liegen Telefonleitungen, Elektrokabel, die Rohre für Gas, Fernwärme und Kanalisation frei – und führen mit einem Schlag ins Nichts. Im Bein sind es der Knochen, die großen Blutgefäße, die Muskeln und Sehnen und die ganzen Nervenbahnen, die plötzlich funktionslos sind.
Aber Amputation bedeutet keineswegs, dass man ein Körperteil so einfach los bist. Bis zu 80 Prozent der Patienten spüren Phantomschmerzen. Selbst Menschen, die durch einen genetischen Defekt ohne Arme oder Beine auf die Welt gekommen sind, also gar keinen anderen Zustand kennen, spüren Phantomschmerz. Kein Mensch weiß, warum. Vielleicht, weil der Kopf oder die Seele oder was auch immer ein Idealbild vom Körper in sich trägt und nun feststellt, dass etwas unvollkommen ist? Armamputierte berichten, sie hätten das Gefühl, dass ihr amputierter Arm mitgestikuliere, während sie sprechen, oder dass sie Schmerz fühlen, wenn das fehlende Glied zum Beispiel zu nah an eine heiße Herdplatte kommt. Viele haben den Eindruck, die fehlende Gliedmaße sei verdreht und nicht
in der richtigen Position. Mir scheint es so, als weigere sich mein Kopf, den Verlust meines Unterschenkels hinzunehmen. Der Schmerz kam immer wieder in Wellen. Das Perfide dabei: Es tat ja etwas weh, das eigentlich gar nicht mehr da war. Ich weiß nicht, was mit meinem Bein nach der Amputation geschehen ist, jedenfalls ist er nicht mehr ein Teil von mir. Doch wenn er mir schon fehlt, sollte ich ihn wenigstens endgültig los sein – aber mein Unterschenkel ist bis heute noch da. Zumindest sein Schatten, sein Phantom. Immer wenn das Wetter umschlägt, kommt er wieder, dieser unheimliche Phantomschmerz. Es tut weh, es prickelt wie kleine Stromschläge, als ob das Beim komplett eingeschlafen wäre und man plötzlich aufspringen müsse; ein attackenartiges, sehr unangenehmes Brennen mit Juckreiz und Kribbeln wie von tausend Nadeln, ein Schmerz wie nach einem Schnitt mit dem Messer oder auch das Gefühl, als wäre der Fuß eingeklemmt. Diese Gefühl kann stundenlang anhalten. Als ob der Fuß tatsächlich noch da wäre. Aber will ich mich kratzen oder meinen Phantomschmerz lindern, geht der Griff ins Leere.
Bei manchen Patienten verschwinden Phantomschmerzen bald wieder – bei Menschen wie mir kann der Schmerz Jahre oder das ganze Leben andauern. Es gibt aber auch Menschen, die haben schmerzfreie Phantomgefühle – hier kann eine Prothese das fehlende Körperteil ersetzen. Die Vorstellung im Gehirn lässt Körper und Prothese wieder zu einer Einheit verschmelzen. Zu diesen Glücklichen gehöre ich leider nicht.
Als gesunder Mensch wird man mit Kopf, zwei Armen und zwei Beinen geboren. Man lernt, sich zu bewegen und beherrscht den eigenen Körper schließlich so, dass alles perfekt funktioniert, alles aufeinander abgestimmt ist und wie aus einem Guss erscheint. Bis dann das Schicksal nach einem greift. Amputation, das ist ein sehr brutaler Eingriff ins Leben. Fast alle Menschen fallen in ein tiefes Loch, fangen an zu
trinken, sagen: Ich will nicht mehr. Für diese Menschen ist der Weg zurück ins normale Leben ein harter, manchmal langer Kampf. Bei mir kam es gar nicht dazu – ich habe nie gegrübelt, was wäre gewesen, was könnte jetzt anders sein. Warum sollte ich mir unnütze Gedanken machen?
Ich habe also von Anfang an akzeptiert, dass es ist, wie es ist. Wogegen ich gekämpft habe, ist der Phantomschmerz. Ich habe alles ausprobiert, was es gegen diesen Schmerz gibt. Von Akupunktur bis hin zu sehr starken Schmerzmitteln, die auf Dauer aber süchtig machen und Nieren und Leber angreifen. Das einzige, was mir hilft, sind Kältebehandlungen und manchmal auch die Akupunktur – vor allem aber eines: Bewegung. Und so habe ich schon bald angefangen, nicht gegen die Amputation anzukämpfen, sondern sie anzugehen, meinen Körper zu trainieren und mit meinem Stumpf zu leben.
Niemand – meine Eltern, meine
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