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Wohin das Herz uns trägt

Wohin das Herz uns trägt

Titel: Wohin das Herz uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Hannah
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vertraute nicht darauf, dass sie durch eine geschliffene Linse die Wirklichkeit so sah, wie sie war.
    Ungefähr anderthalb Meter vor dem Baum blieb sie stehen und blickte hinauf. Das Kind kauerte immer noch dort, unglaublich hoch oben auf einem Ast. Es war eindeutig ein Mädchen. Allem Anschein nach machte es ihr keine Schwierigkeiten, sich im Gleichgewicht und den Welpen im Arm zu halten, aber ihre Augen waren weit aufgerissen und verfolgten wachsam jede Bewegung. Das arme Ding war offenbar völlig verängstigt.
    Und verdammt wollte sie sein, wenn der Welpe auf ihrem Arm kein Wolf war!
    »Hey, Kleines«, sagte Ellie mit leiser, freundlicher Stimme. Wie so oft wünschte sie sich, sie hätte selbst Kinder. Jetzt wäre eine durch und durch mütterliche Stimme genau das Richtige. »Was machst du denn da oben?«
    Der kleine Wolf knurrte und bleckte die Zähne.
    Ellie sah dem Mädchen in die Augen. »Ich tu dir nichts. Ehrlich.«
    Keine Reaktion, das Kind zuckte nicht mit der Wimper und rührte auch keinen Finger.
    »Fangen wir noch mal an. Ich bin Ellen Barton. Und wie heißt du?«
    Auch darauf keine Antwort.
    »Ich schätze, du bist irgendwo weggelaufen. Oder du spielst ein Spiel. Als ich noch ein kleines Mädchen war, hab ich mit meiner Schwester im Wald Piraten gespielt. Und Aschenputtel. Das war mein Lieblingsspiel, weil Julia dann das Zimmer saubermachen musste, während ich hübsche Kleider anziehen und zum Ball gehen konnte. Als große Schwester hat man es immer besser.«
    Es kam ihr vor, als würde sie mit einem Foto sprechen.
    »Warum kletterst du nicht einfach runter, bevor du am Ende noch fällst? Ich passe schon auf, dass dir nichts passiert.«
    Noch etwa eine Viertelstunde redete Ellie in diesem Stil weiter, über alles, was ihr einfiel, aber dann gingen ihr die Themen aus. Kein einziges Mal hatte die Kleine sich auch nur bewegt. Offen gesagt sah es nicht mal danach aus, als würde sie überhaupt atmen.
    Schließlich gesellte sich Ellie wieder zu Earl, Peanut und Cal.
    »Wie kriegen wir sie da bloß runter, Chief?«, fragte Earl mit besorgtem Gesicht, die blasse, verschwitzte Stirn in tiefe Falten gelegt. Nervös strich er sich über den Kopf und glättete die spärlichen roten Haarsträhnen, die er seit unzähligen Jahren fein säuberlich über die kahlen Stellen kämmte.
    Doch auch Ellie hatte keine Ahnung, wie sie dieses Problem bewältigen sollten. In der Polizeiwache gab es alle möglichen Hand- und Lehrbücher, die sie für ihre Prüfung zum großen Teil auswendig gelernt hatte. Sie enthielten Kapitel über Mord, Körperverletzung, Raub und Entführung, aber kein verdammtes Wort darüber, wie man ein Kind, das nicht sprach, und einen knurrenden Wolfswelpen von einem Baum auf der Main Street herunterkriegen konnte. »Hat jemand sie raufklettern sehen?«
    »Ja - Mrs Grimm. Sie sagt, sie hat gleich gemerkt, dass die Kleine irgendwas im Schilde führt und wahrscheinlich einen Apfel klauen wollte. Als Doc Fischer sie deshalb angeschrien hat, ist die Kleine über die Straße gesaust und auf den Baum gesprungen.«
    »Gesprungen?«, wiederholte Ellie. »Sie sitzt bestimmt sechs Meter hoch.«
    »Ich hab‘s auch nicht geglaubt, Chief, aber mehrere Zeugen haben das Gleiche berichtet. Und das Mädchen ist gerannt wie der Wind. Mrs Grimm hat sich bekreuzigt, als sie es mir erzählt hat.«
    Ellie spürte, dass sie Kopfschmerzen bekam. Bis zur Abendessenszeit würde die ganze Stadt die Geschichte von dem Mädchen gehört haben, das rannte wie der Wind und auf Ahornbäume sprang. Als Nächstes erzählte man sich dann, dass Feuer aus ihren Fingerspitzen loderte und sie von Ast zu Ast fliegen konnte.
    »Wir brauchen einen Plan«, stellte Ellie fest, mehr zu sich selbst als zu sonst jemandem.
    »Die freiwillige Feuerwehr hat Scamper damals aus der Douglasfichte in der Peninsula Road geholt.«
    »Scamper ist eine Katze, Earl«, entgegnete Peanut und verschränkte die Arme vor der Brust.
    »Das weiß ich auch, Penelope. Es ist ja nicht so, als hätten wir irgendwo einen Vorschriftenkatalog für den Fall, dass ein Kind auf einem Baum sitzt. Mit einem Wolf auf dem Schoß«, fügte er hinzu.
    Ellie legte kurz die Hand auf seinen Arm. »Das ist an sich eine gute Idee, Earl, aber die Kleine ist total verängstigt. Wenn wir mit einer großen roten Leiter anrücken, stürzt sie womöglich ab.«
    Peanut klopfte sich mit ihren langen, lila lackierten und mit Sternchen verzierten Fingernägeln auf die Zähne, stets ein Zeichen

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