Wohin das Herz uns trägt
aber mit Kindern kannte sie sich so gut wie überhaupt nicht aus.
Peanut und Cal - die sich mit Kindern bestens auskannten - glaubten beide, dass Reden das Mittel der Wahl war. Deshalb war diese Methode ihr Plan A. Alle waren der Meinung, dass es wünschenswert war, wenn das Kind aus freien Stücken herunter kletterte. Also redete Ellie.
Sie warf einen Blick auf den Teller, der am Fuß des Baumes stand. Zwei herrliche Brathähnchen, umgeben von Apfel- und Orangenstücken. Auf einem Extrateller ein frisch gebackener Apfelkuchen. Ein paar Papierteller und Gabeln, ordentlich aufgestapelt. Das Glas Milch war sicher längst nicht mehr eiskalt.
Bestimmt wäre richtiges Kinderessen besser gewesen Cheeseburger, Pommes und Pizza. Warum war ihr das nicht schon vorher eingefallen?
Trotzdem duftete es köstlich. Ellies Magen knurrte und erinnerte sie daran, dass die Zeit zum Mittagessen längst verstrichen war. Und sie war es nicht gewohnt, Mahlzeiten auszulassen. Wenn es die Aerobic-Kurse im Tanzstudio nicht gegeben hätte, wäre sie seit der Highschool sicherlich immer dicker geworden. Und weiß der Himmel - eine zierlich gebaute Frau wie sie konnte es sich nicht leisten zuzunehmen. Jedenfalls nicht, solange sie unverheiratet war und Liebe suchte.
Vorsichtig legte sie den Kopf schräg und schielte nach oben.
Das Mädchen erwiderte ihren Blick weiterhin mit einer beunruhigenden Intensität. Ihre Augen unter den dunklen Wimpern hatten die Farbe des Karibischen Meers an einer seichten Stelle. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte Ellie an ihre zweiten Flitterwochen. Damals hatte sie zum ersten Mal das Tropenmeer und die Horden kleiner dunkelhäutiger Kinder gesehen, die darin spielten. So mager diese Kinder auch gewesen waren, hatte Ellie doch selten so ein unbeschwertes, fröhliches Lachen gehört.
Nachdenklich sah sie über die Straße zu dem riesigen Rhododendron vor dem Eisenwarenladen. Dahinter versteckte sich ein Mann vom Tierschutz, die Waffe im Anschlag. Sie war mit einem Beruhigungspfeil für den Wolfswelpen geladen. Bei ihm war außerdem noch ein Mann vom örtlichen Tierpark mit Maulkorb und Käfig.
Rede weiter.
Sie seufzte. »Eigentlich wollte ich ursprünglich gar nicht zur Polizei. Ich bin da irgendwie reingeraten - so geht das manchmal in meinem Leben. Aber meine Schwester Julia, die ist genau das Gegenteil von mir. Sie plant immer alles. Schon mit zehn Jahren wusste sie, dass sie Psychologin werden will. Ich war bloß scharf auf ihre Barbie-Sammlung.«
Ellie lächelte wehmütig. »Mit einundzwanzig hab ich zum zweiten Mal geheiratet. Als diese Ehe dann auch in die Brüche ging, bin ich wieder bei meinem Dad eingezogen. Nicht gerade eine Meisterleistung, wenn man schon in einem Alter ist, in dem man Alkohol trinken darf ... und das hab ich nebenbei gesagt auch reichlich getan. Junge, Junge, hab ich getrunken. Margaritas und Karaoke waren damals mein Lebensinhalt. Eigentlich hätte ich es gern mal mit einer Band probiert, aber irgendwie hat das nie geklappt. Die Tragödie meines Lebens. Jedenfalls war mein Onkel Joe damals Polizeichef, und er hat eine Abmachung mit mir getroffen: Wenn ich auf die Polizeischule gehe, dann ignoriert er alle meine Knöllchen.« Sie zuckte die Achseln. »Da ich nichts Besseres zu tun hatte, hab ich mich darauf eingelassen. Als ich fertig war, hat Onkel Joe mich eingestellt. Und es wurde immer klarer, dass ich für den Job wie gemacht bin.« Wieder riskierte sie einen verstohlenen Blick zu dem Mädchen hinauf.
Keine Bewegung. Nichts.
Ellies Magen knurrte wieder, sehr laut.
»Ach, was soll‘s.« Sie streckte die Hand nach dem Hähnchen aus und riss einen Schenkel ab.
Als sie hineinbiss, musste sie einen Moment vor Wonne die Augen zumachen. Ganz langsam kaute sie und schluckte schließlich.
Die Blätter raschelten. Der Ast knarrte.
Ellie wagte nicht, sich zu rühren. Sie spürte, wie eine Brise durch den Park wehte und die trockenen Blätter vor sich her trieb.
Das Mädchen beugte sich vor. Zwischen ihren Lippen zeigte sich eine rosa Zungenspitze. Ellie bemerkte, dass ein Schneidezahn fehlte.
»Komm«, flüsterte sie. Als das Mädchen nicht reagierte, versuchte sie es anders. Geschichten funktionierten irgendwie nicht, aber vielleicht war die Lösung ja viel einfacher. »Runter. Hier. Hähnchen. Kuchen. Essen.«
Und tatsächlich sprang das Mädchen von seinem Ast herunter, landete geschmeidig wie eine Katze neben dem Essen, lautlos und auf allen vieren, den Welpen
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