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Wohin das Herz uns trägt

Wohin das Herz uns trägt

Titel: Wohin das Herz uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Hannah
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immer noch im Arm.
    Unmöglich. Ihre Knochen hätten bei dem Aufprall zerbrechen müssen wie dünne Stöckchen.
    Ellie spürte, wie sich etwas in ihrem Bauch zusammenzog. Sie war keine realitätsfremde oder abergläubische Person, aber in diesem Augenblick, auf dieser Bank, vor sich dieses schmutzige, magere Kind mit seinem weißen Wolfswelpen, fühlte sie sich plötzlich von einer Art ehrfürchtigem Staunen überwältigt.
    Wieder trafen sich ihre Blicke. Die wunderschönen, schaurig blaugrünen Augen schienen alles zu sehen.
    Ellie rührte sich nicht, sie wagte nicht einmal zu atmen.
    Das Mädchen reckte das Kinn, schnupperte und ließ dann den Wolf langsam los, der jedoch dicht an ihrer Seite blieb. Vorsichtig machte sie einen Schritt auf das Hähnchen zu.
    Dann noch einen.
    Und noch einen.
    So leise wie möglich atmete Ellie aus. Das Mädchen bewegte sich wie ein wildes Tier, hielt immer wieder inne und sog die Luft ein, als würde sie wittern. Und der kleine Wolf folgte ihr dicht auf den Fersen.
    Doch endlich wandte sie die Augen ab und machte sich über das Essen her.
    Etwas Derartiges hatte Ellie noch nie gesehen. Wie sich zwei Rudeltiere über eine gemeinsam getötete Beute hermachen, so stürzten das Mädchen und ihr Wolf sich auf das Hähnchen. Die Kieme riss das Fleisch in Fetzen ab und stopfte es sich gierig in den Mund.
    Langsam griff Ellie hinter sich und tastete nach dem Netz.
    Lieber Gott, bitte mach, dass es funktioniert. Sie hatte nämlich keinen Plan B auf Lager.
    Mit einer perfekten Cheerleader-Drehung holte Ellie das Netz hervor und warf es über das Mädchen und den Wolfswelpen. Der Rand kam hart auf dem Boden auf. Als die beiden merkten, dass sie gefangen waren, drehten sie durch.
    Das Mädchen warf sich ins Gras, rollte wild herum, ihre schmutzigen Finger krallten nach dem Nylonnetz. Aber je mehr sie sich wehrte, desto enger zog sich die Schlinge zusammen.
    Der Wolfswelpe knurrte. Doch dann traf ihn der rote Pfeil zischend in die Seite, er stieß ein überraschtes Jaulen aus, strauchelte und kippte um.
    Das Mädchen heulte. Ein schreckliches, qualvolles Geräusch.
    »Alles wird gut, Schätzchen«, sagte Ellie und ging langsam auf sie zu. »Hab keine Angst. Er ist nicht verletzt. Ich lasse ihn an einen sicheren Ort bringen, wo es ihm gut geht.«
    Ohne auf die Worte zu reagieren, zog die Kleine den Wolf auf ihren Schoß, streichelte und knuffte ihn leidenschaftlich, um ihn aufzuwecken. Als es ihr nicht gelang, heulte sie erneut, ein verzweifelter, klagender Wolfsschrei, der die Stille durchschnitt und einen Krähenschwarm so erschreckte, dass die Vögel mit rauschenden Flügeln in den dunkel werdenden Himmel aufstiegen.
    Behutsam schlich sich Ellie von hinten an das Kind heran. Im Näherkommen stieg ihr neben dem Duft der vermodernden Blätter und der nassen Erde ein stechender Ammoniakgeruch in die Nase. Urin.
    Sie schluckte schwer, ließ die Spritze, die sie in ihrem Ärmel versteckt hatte, nach vorn rutschen, zielte sorgfältig auf den Rumpf des Mädchens und verabreichte ihr die Injektion.
    Das Kind schrie vor Schmerz laut auf und fuhr zu ihr herum.
    »Tut mir leid«, flüsterte Ellie. »Es ist nur zu deinem Schutz. Du wirst ein, zwei Minuten schlafen, aber ich werde nicht zulassen, dass dir jemand wehtut.«
    Mit fahrigen Bewegungen wich das Mädchen vor Ellies Hand zurück und verlor das Gleichgewicht. Noch ein Heulen entrang sich ihrer Kehle, dann brach sie zusammen. Wie sie da lag, an den bewusstlosen Welpen geschmiegt, wirkte sie unglaublich zart und klein. Noch nie hatte Ellie etwas derart Hilfloses gesehen.
    * * *
    In den letzten Augenblicken des Abstiegs verfärbte sich der blasse pazifische Himmel langsam von poliertem Gold in ein helles Lachsrosa.
    Schwer atmend hielt er inne, schwang sich herum, sodass er kurz in seinem Gurt frei am Seil baumelte, und wandte sich der Aussicht zu.
    Von seinem Platz an der Granitwand, rund hundertzwanzig Meter über einem kristallblauen namenlosen Alpsee, konnte Max Cerrasin die Welt sehen. Er war umgeben von den spitzen, eindrucksvollen Gipfeln der Olympic Mountains. Die atemberaubende, Ehrfurcht gebietende Landschaft schien so weit von jeder Zivilisation entfernt zu sein wie kaum ein zweiter Ort auf Erden. Soweit er wusste, war er der erste Mensch, der diese schroffe Felswand je bestiegen hatte.
    Genau das faszinierte ihn so an diesem Sport. Wenn man hoch oben über der Welt war, nur durch ein Stück Metall und die eigene Courage mit dem Stein

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