Wohin das Herz uns trägt
Brille wieder auf und sah die Versammelten an. »Ich werde mir das alles durch den Kopf gehen lassen. Für die Prozessdauer benenne ich einen Vormund, der die speziellen Bedürfnisse des Kindes und seine derzeitige Verfassung beurteilen kann, und lasse es Sie wissen, sobald ich zu einer Entscheidung gekommen bin. Bis dahin verbleibt das Kind in der Obhut von Dr. Cates. Mr Azelle bekommt das Besuchsrecht unter Beaufsichtigung.«
Wieder sprang der Anwalt auf. »Aber Euer Ehren ...«
»Das ist mein Beschluss, Herr Anwalt. Wir werden hier mit größter Sorgfalt vorgehen. Das Kind hat genug gelitten. Und ich bin sicher, dass auch Ihr Klient nur das Beste für seine Tochter will.« Sie schlug mit dem Hammer auf den Tisch. »Nächster Fall.«
Julia brauchte einen Moment, um zu begreifen, was soeben passiert war. Sie hatte das Sorgerecht für Alice behalten, zumindest vorläufig.
Sie hörte, wie John und Ellie sich über die Logistik des Besuchsrechts austauschten.
Das kannte sie alles, denn sie war selbst unzählige Male zum Vormund ad litem ernannt worden, um die Interessen eines Kindes zu schützen.
Langsam stand sie auf und ging zum Ausgang. An der Tür wartete Max bereits auf sie.
Auf einmal packte jemand sie am Arm. Ein bisschen zu fest.
George Azelle zog sie beiseite. Verschwunden war sein Hollywood-Lächeln, verblasst dank seiner heutigen Niederlage. In seinen Augen erkannte sie stattdessen eine Trauer, die sie dort nicht vermutet hätte. »Ich muss sie sehen.«
Ihr blieb nichts anderes übrig, als zuzustimmen. »Morgen. Aber ich werde ihr nicht sagen, wer Sie sind. Sie würde es sowieso nicht verstehen. Wir wohnen in der River Road Nummer 1617. Kommen Sie um eins.« Sie machte sich los und wollte weitergehen.
Aber er packte sie erneut.
Sie blickte auf seine langen, gebräunten Finger, die sich besitzergreifend um ihren Oberarm krampften. Offensichtlich war er es gewohnt, sich zu nehmen, was er wollte, und sich dabei wenig um die Grenzen anderer Menschen zu scheren. »Lassen Sie mich los, Mr Azelle.«
Sofort gehorchte er.
Doch wenn sie erwartet hatte, dass er sich zurückziehen würde - wie es Feiglinge normalerweise taten, wenn man sie erwischte, und Männer, die ihre Frauen schlugen, waren immer Feiglinge und Tyrannen -, hatte sie sich getäuscht. Er blieb stehen, hoch aufgerichtet und gleichzeitig eingeschüchtert, geduckt.
»Wie geht es ihr?«, fragte er endlich.
Julia hätte schwören können, dass man seiner Stimme anhörte, wie es ihn schmerzte, diese Frage zu stellen. Aber dann rief sie sich ins Gedächtnis, dass Mörder und Soziopathen oft sehr gute Schauspieler waren. »Es wurde allmählich Zeit, dass sie sich nach ihr erkundigen.«
»Sie glauben wohl, Sie kennen mich, Dr. Cates. Das glauben sowieso alle.« Mit einem Seufzer trat er zurück, fuhr sich mit der Hand durch die Haare und schob das Gummi von seinem Pferdeschwanz. »Himmel, ich bin es so leid, einen Kampf auszufechten, den ich nicht gewinnen kann. Also sagen Sie mir einfach, wie es meiner Tochter geht. Was zum Teufel hat es zu bedeuten, dass sie in ihrer Entwicklung zurückgeblieben ist?«
»Sie hat furchtbare Dinge durchgemacht, aber sie erholt sich peu a peu. Sie ist ein starkes, liebevolles kleines Mädchen, das noch viel Therapie und Stabilität braucht.«
»Und Sie glauben, ich bin nicht stabil?«
»Wie Sie bereits selbst gesagt haben, kenne ich Sie nicht.« Julia griff in ihre Mappe und zog eine Reihe von Videokassetten hervor, die sie ihm reichte. »Die habe ich für Sie überspielt. Es sind Aufnahmen unserer Sitzungen. Die werden sicher einige Ihrer Fragen beantworten.«
Er nahm die Kassetten vorsichtig entgegen, als hätte er Angst, sich am Plastik zu verbrennen. »Wo ist sie gewesen?«, fragte er nach einer Weile. Diesmal klang seine Stimme samtweich, und Julia erinnerte sich daran, dass er ursprünglich aus Louisiana kam. Dem Prozessprotokoll zufolge war er in bettelarmen Verhältnissen im Bayou aufgewachsen.
»Das wissen wir nicht. Irgendwo in den Wäldern vermutlich .« Julia ließ sich nicht von seinem besorgten Ton irreführen. Er spielte mit ihr, da war sie ziemlich sicher. Er wollte sie glauben machen, dass auch er ein Opfer war. »Aber ich nehme an, das wissen Sie.«
Jetzt trat Ellie zu ihnen und legte die Hand auf Julias Arm. »Alles in Ordnung?«
»Mr Azelle hat sich endlich nach Alice erkundigt.«
»Nennen Sie mich ruhig George. Und meine Tochter heißt Brittany.«
Julia zuckte zusammen. »Wir nennen
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