Wohin das Herz uns trägt
sie noch fast eine Stunde mit dem besten Privatdetektiv von King County telefoniert.
Jeder, mit dem sie sprach, und auch sämtliche Berichte, die sie gelesen hatte, liefen auf das Gleiche hinaus.
Azelle war schuldig.
Aber der Staat hatte es nicht beweisen können.
Ellie wanderte unruhig im Wohnzimmer auf und ab, gefolgt von den Hunden, die jedes Mal, wenn sie kehrtmachte, mit ihr zusammenstießen. Jetzt lag es an ihr, zu beweisen, dass Azelle unfähig war, für ein Kind zu sorgen, doch bisher stieß sie immer nur auf eine dicke Schicht von Andeutungen, einen Nebel von Vorwürfen.
Fakt war, dass er seine Frau betrogen hatte. Das war das Einzige, was eindeutig nachgewiesen werden konnte. Die Nachbarn glaubten , dass er gewalttätig war. Die Geschworenen glaubten , dass er seine Frau getötet hatte. Aber eben nicht auf der Grundlage stichhaltiger Beweise. Und die Medien ...
Alle Journalisten, mit denen sie gesprochen hatte, waren sicher, dass er das Verbrechen begangen hatte, dessen er bezichtigt wurde. Doch bislang hatte keiner etwas zutage gefördert, was Azelle sich in der Vergangenheit hatte zuschulden kommen lassen. Keine Drogen, kein Alkohol am Steuer, nicht einmal Erregung öffentlichen Ärgernisses wegen Trunkenheit.
Fluchend schnappte Ellie sich ihre Akten und verließ das Haus.
Sie fuhr direkt zum Rain Drop, denn sonst hatte so früh nichts offen. Wie gewöhnlich um diese Zeit war das kleine Schnellrestaurant voll besetzt mit Holzarbeitern, Fischern und Angestellten des Sägewerks, die hier frühstückten. Auf dem Weg zur Kasse blieb Ellie an jedem Tisch stehen und unterhielt sich mit den Gästen.
Rosie Chicowski stand hinter der Theke und rauchte eine Zigarette. Blauer Rauch stieg auf und gesellte sich zu den Schwaden, die bereits unter der Decke waberten.
»Hallo, Ellie, du bist heute aber früh dran«, sagte sie, nahm die Zigarette aus dem Mund und drückte sie im Aschenbecher aus. Seit fünfzig Jahren wurde im Rain Drop geraucht, daran konnte kein Gesetz etwas ändern.
»Ich brauche dringend Koffein.«
Rosie lachte. »Aber gerne. Wie wäre es mit einem von Barbs Brombeermuffins dazu?«
»Wunderbar. Aber nur eins. Erschieß mich, wenn ich noch eins bestelle.«
»Fleischwunde oder gleich tot?«
»Lieber gleich tot.« Lachend wandte Ellie sich um und machte sich auf den Weg in den menschenleeren Nichtraucherbereich.
Da entdeckte sie ihn.
Er lümmelte auf der dunkelroten Vinylbank, vor sich eine leere Kaffeetasse. Als er Ellie sah, nickte er nur.
Ellie ging zu ihm. »Hallo, Mr Azelle«, sagte sie.
»Hallo, Chief Barton.« Er sah nicht aus, als würde er sich freuen, sie zu sehen. Argwöhnisch glitt sein Blick über die dicke braune Akte, die sie bei sich trug.
»Darf ich mich zu Ihnen gesellen? Ich habe noch ein paar Fragen, die ich Ihnen gerne stellen möchte.«
Er seufzte. »Das habe ich schon erwartet.«
Sie setzte sich auf die Bank ihm gegenüber und musterte ihn, versuchte ihn richtig zu sehen, erkannte aber nur müde Augen und tiefe Falten. Während sie ihre Fragen im Kopf vorformulierte, sagte er unvermittelt: »Drei Jahre.«
»Drei Jahre was?«
Er beugte sich über den Tisch und schaute ihr tief in die Augen. »Drei Jahre war ich im Gefängnis wegen eines Verbrechens, das ich nicht begangen habe. Himmel, ich wusste ja nicht mal was davon. Ich dachte, Zoe ist bei ihrem neuen Liebhaber, sie hat mich sitzen lassen und unser Kind mitgenommen.« Die Intensität seiner Augen ging ihr an die Nieren. »Stellen Sie sich doch mal vor, wie Sie sich fühlen würden, wenn man Sie für den Rest Ihres Lebens einsperren würde, weil Sie angeblich etwas Entsetzliches verbrochen haben. Und warum? Weil Sie ein paar falsche Entscheidungen getroffen haben und Ihr Leben von der Leidenschaft bestimmen lassen. Gut, ich hatte Affären. Gut, ich hab meine Frau und meine Familie deswegen angelogen. Gut, ich hab Zoe nach einem Streit Blumen geschickt. Aber das macht aus mir doch noch lange keinen Mörder.«
»Die Geschworenen ...«
»Die Geschworenen «, unterbrach er sie verächtlich. »Für die war doch von vornherein alles klar. Jede Zeitung und jeder Fernsehsender hat mich innerhalb von fünf Minuten für schuldig erklärt. Niemand hat sich die Mühe gemacht, Zoe und Brittany auch nur ernsthaft zu suchen. Zwei Augenzeugen haben an dem Tag, an dem meine Familie verschwunden ist, einen fremden Lieferwagen in meiner Straße gesehen und keiner hat sich darum gekümmert. Die Polizei hat es nicht mal für
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