Wohin das Herz uns trägt
dem See entgegen. Max holte den üblichen Stapel Wurfsendungen und Rechnungen aus seinem zerbeulten Briefkasten und bog dann in seine Auffahrt ein, die weiter nichts als ein Stück mit Schlaglöchern übersäter Kiesweg im fast undurchdringlichen Wald war. Vor über hundert Jahren hatte sich sein Ururgroßvater auf diesem Land niedergelassen, besessen von der grandiosen Idee, hier eine Weltklasse-Pension für Fischer und Jäger einzurichten. Aber bereits ein Jahr in dieser feuchten, grünen Dunkelheit hatte den alten Mann von seinen Plänen abgebracht. Knapp einen Hektar von den fünfzig, die er besaß, hatte er gerodet, weiter war er nicht gekommen. Er war nach Montana gezogen, hatte dort sein Ferienhotel gegründet, und nach einiger Zeit hatte er dieses wilde Land tief in den Wäldern am Spirit Lake vergessen. Es wurde vom ältesten Sohn auf den jeweils nächsten vererbt, bis es schließlich zu Max gelangte. Die Familie hatte erwartet, dass er damit das Gleiche machte, was alle bisher gemacht hatten, nämlich gar nichts. In jeder Generation hatte man den Wert des Grundstücks geprüft und darüber gestaunt, wie wenig es brachte. Daher hatte man weiter die Steuern dafür bezahlt und es ansonsten ignoriert.
Hätte sich sein Leben erwartungsgemäß entwickelt, dann hätte auch Max zweifellos dasselbe getan.
Er stellte das Auto in der Garage ab, neben der Harley-Davidson »Fat Boy«, seinem Lieblingsspielzeug, und ging ins Haus.
Drinnen betätigte er erst einmal die Lichtschalter.
Die Leere hieß ihn willkommen.
In dem weitläufigen Raum gab es nur sehr wenig Möbel: Links stand ein großer Tisch aus Kiefernholz mit einem einzigen Stuhl am einen Ende. Ein wunderschöner gemauerter Kamin mit schmucklosem Sims nahm die ganze östliche Wand ein. Davor ein Ochsenblut-Ledersofa, ein etwas mitgenommener Couchtisch und ein hübsches Holzschränkchen.
Max warf seine Jacke auf die Couch und tastete unter den Kissen nach der Fernbedienung.
Das maßgefertigte Rosenholzschränkchen barg einen Flachbildfernseher. Max stellte ihn an. Was auf der Mattscheibe erschien, war ihm gleichgültig, Hauptsache, es war nicht mehr so still im Haus. Die Stille war ihm verhasst.
Er ging die Treppe hinauf, duschte kurz und zog sich um.
Als er sich vor dem beschlagenen Spiegel rasierte, dachte er wieder an sie.
Das Ohrloch.
Langsam ließ er den Rasierer sinken und starrte auf den winzigen Punkt in seinem Ohrläppchen. Er war schon fast nicht mehr zu sehen, fast zugewachsen, denn er hatte seit über sieben Jahren keinen Ohrring mehr getragen.
Aber sie hatte es gesehen und damit auch einen Blick auf den Mann geworfen, der er früher einmal gewesen war.
* * *
»Du hast eine Pressekonferenz abgehalten, ohne mich vorher zu warnen?« Julia konnte ihren Ärger nicht unterdrücken. »Warum bindest du mir nicht gleich ein Glöckchen um den Hals und wirfst mich den Löwen zum Fraß vor?«
»Wie kann ich denn riechen, dass du vorbeikommst? Du warst letzte Nacht nicht mal zu Hause, da kann ich meine Planung schlecht mit dir absprechen. Wofür hältst du mich? Eine Hellseherin?« Julia lehnte sich im Autositz zurück und verschränkte die Arme. In der plötzlichen Stille hörte man den Regen auf die Windschutzscheibe des Streifenwagens prasseln.
»Vielleicht wäre es ja gut, wenn die Medien wissen, dass du hier bist. Ich erzähle denen, dass wir überzeugt sind ...«
»Du meinst, es wäre gut, wenn ich mein Gesicht in die Kamera halte? In diesem Zustand? Meine Patientin - ein Kind wohlgemerkt - hat mich angegriffen. Das ist nicht gerade ein Gütesiegel für meine Arbeit.«
»Es war nicht deine Schuld.«
»Ich weiß das«, fauchte Julia. »Aber glaub mir, wenn ich dir sage, dass diese Leute es nicht glauben werden.«
Das Gleiche hatte sie sich in der letzten halben Stunde schon hundertmal selbst gesagt. Als sie die Reporter gesehen hatte, war sie einen Augenblick lang versucht gewesen, sich als die Psychologin zu erkennen zu geben, die den Fall betreute. Doch es war noch zu früh. Sie vertrauten ihr nicht mehr. Sie musste dafür sorgen, dass sie einen Erfolg verbuchen konnte, sonst würde man sie in der Luft zerreißen. Zum zweiten Mal.
Sie musste das Mädchen zum Sprechen bringen. Und zwar möglichst schnell.
Es sah ganz danach aus, als würde sich die Geschichte mindestens ein paar Tage in den Medien halten, mit Schlagzeilen und Spekulationen über die Identität des Mädchens. Wahrscheinlich würde man annehmen, dass sie entweder wegen
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