Wohin das Herz uns trägt
Einschränkung vorliegt.«
Ein Mann mit einer Baseballmütze der Seattle Times erhob sich. »Dann schweigt sie also absichtlich?«
»Das wissen wir ebenfalls noch nicht.«
»Ist sie verwundet oder krank?«
»Oder verrückt?«
Ellie war noch dabei, ihre Antwort zu formulieren, als Earl ans Mikrofon trat und sagte: »Wir haben eine bekannte Psycho...«
»Unsere besten Ärzte kümmern sich um sie«, fiel ihm Ellie ins Wort und trat ihn heftig vors Schienbein. »Das ist alles, war wir zurzeit haben. Hoffentlich meldet sich jemand, der uns ein paar unserer Fragen beantworten kann.«
»Ich hab gehört, sie hatte einen Wolfswelpen dabei.« Die Frage kam von einer Frau ziemlich weit hinten.
»Und dass sie von einem zwölf Meter hohen Ast gesprungen ist«, fügte eine weitere Stimme hinzu.
Ellie seufzte. »Wir sollten uns nicht von Kleinstadttratsch verrückt machen lassen. Hier geht es um die Identifizierung eines Kindes.«
»Sie haben ja nicht gerade viel, womit wir arbeiten können«, wandte jemand ein.
Ellie hatte gesagt, was sie zu sagen hatte, doch die Fragen hörten einfach nicht auf. Die Frage, die dann alle vorherigen in den Schatten stellte, kam schließlich von Mort: »Seid ihr sicher, dass sie ein Mensch ist?«
Von da ging es nur noch weiter bergab.
* * *
»Sie haben Glück, dass es heute früh geregnet hat, als ich das Haus verlassen habe. Sonst wäre ich nämlich mit dem Motorrad unterwegs«, sagte Max und öffnete die Beifahrertür seines Pick-up für Julia.
»Lassen Sie mich raten«, sagte sie, während er sich ans Steuer setzte und den Motor anließ. »Harley-Davidson.«
»Woher wissen Sie das?«
»Das Ohrloch. Ich bin Psychotherapeutin, erinnern Sie sich? Uns entgeht nicht das kleinste Detail.«
Er fuhr aus dem Parkplatz, »Oh. Mögen Sie Motorräder?«
»Die, mit denen man richtig schnell fahren kann? Nein.«
»Zu schnell, zu frei, oder was?«
Sie starrte aus dem Fenster auf die vorbeiflitzenden Bäume und wünschte sich, er würde langsamer fahren. »Zu viele Organspender.«
Eine Weile fuhren sie schweigend weiter. Schließlich fragte Max: »Haben Sie sich eigentlich schon zu dem einen oder anderen Punkt eine Meinung gebildet?«
Genau diese Art von Fragen stellten Mediziner einem Psychologen am liebsten. Sie hatten schlicht keine Ahnung, wie viel Zeit man für eine akkurate psychologische Diagnose brauchte; dennoch war Julia dankbar für die Rückkehr auf die berufliche Ebene. »Ich kann Ihnen sagen, was ich nicht glaube. Das ist immer ein guter Anfang. Also, ich glaube nicht, dass sie taub ist, jedenfalls nicht völlig. Ich glaube auch nicht, dass sie geistig behindert ist, aber das ist nur so ein Gefühl. Was den Autismus angeht, so ist er momentan eindeutig die beste Hypothese, doch wenn das Mädchen wirklich autistisch ist, dann ist sie zumindest hoch funktional.«
»Das klingt, als würden Sie auch an diese Diagnose nicht recht glauben.«
»Ich brauche viel mehr Zeit für Untersuchungen. Als sie mich angesehen hat ...« Sie ließ den Satz unvollendet, denn sie wollte nicht weiter spekulieren, dafür waren ihre Informationen einfach noch zu spärlich. Diese Vorsicht war eine weitere indirekte Folge ihrer jüngsten Probleme. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie Angst, sich zu irren.
»Was?«
»Sie hat mich angesehen. Das ist der Punkt. Nicht ein Stückchen daneben oder durch mich hindurch, sondern ganz direkt. Und ab und zu kam es mir vor, als würde sie ein Wort verstehen. Angst. Essen. Hunger. Ich könnte schwören, dass sie wusste, was das bedeutet.«
»Glauben Sie, dass ein Wort sie so in Rage gebracht hat?«
»Ich habe keine Ahnung. Ehrlich, ich erinnere mich gar nicht mehr, was ich gesagt habe.«
»Kann sie sprechen?«
»Bisher habe ich nur Laute gehört. Reinster Gefühlsausdruck. So viel kann ich Ihnen aber sagen: Selektiver Mutismus ist bei einem kindlichen Trauma eine sehr häufige Reaktion.«
»Und sie ist traumatisiert.«
»Das ist sie.«
Das Gewicht der Worte machte die Atmosphäre zwischen ihnen plötzlich bedrückend und traurig.
Dieser Gedanke war Julia schon den ganzen Tag durch den Kopf gegangen, er war der dunkle Schatten hinter all ihren Fragen.
»Davor habe ich auch Angst. Womöglich sind die körperlichen Narben des Mädchens gegenüber ihren emotionalen Verletzungen weiter nichts als Lappalien.«
»Dann hat das Mädchen Glück, dass Sie hier sind.«
»Na ja, eigentlich bin ich diejenige, die Glück hat.« Kaum waren die Worte über ihre
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