Wohin das Herz uns trägt
6
»Bist du sicher, dass man das so macht?«, fragte Peanut wenigstens zum zehnten Mal innerhalb von zehn Minuten.
»Sehe ich aus, als wäre ich Fachmann für so was?«, antwortete Ellie gereizt. Immer wenn sie nervös war, wurde sie schnippisch, und heute musste sie ihre erste Pressekonferenz geben. Wenn sie nicht alles richtig machte, stand sie da wie ein Idiot. Und wenn Ellie eins hasste, dann war es, sich dumm vorzukommen. Deshalb war sie auch vom College abgegangen; es war besser zu gehen, als zu versagen.
»Ellie? Drehst du gleich durch?«
»Nein, nein, alles in Ordnung.«
Sie hatten die Polizeistation in einen provisorischen Konferenzraum verwandelt und die Schreibtische ganz an die Wand geschoben.
In der Mitte hatten sie zwei Reihen mit jeweils fünf Stühlen aufgebaut, davor ein Podium - aus der Rumpelkammer des Rotarier-Clubs.
Cal saß an seinem Schreibtisch und machte Telefondienst. Peanut stand im Korridor und begutachtete das Arrangement. Aus irgendeinem seltsamen Grund war sie überzeugt, dass sie mit der Situation umgehen konnte.
Von wegen.
Ellie hatte wenigstens ein bisschen Medienerfahrung. Als sie gerade erst bei der Polizei anfing, hatte ihr Onkel Joe einmal eine Pressekonferenz abgehalten. Ihr Exmann Alvin hatte nämlich behauptet, Bigfoot gesichtet zu haben. Ein paar Lokalzeitungen und ein Sensationsblättchen hatten Reporter geschickt, und natürlich war auch Alvin aufgetaucht blau wie ein Veilchen.
Zum hundertsten Mal kontrollierte Ellie die Stühle. Auf jedem Metallsitz lag ein Flugblatt, beschwert mit einem kleinen Stein. Gerade las sie ihre Erklärung noch einmal durch, als Earl hereinkam. Er trug volle Galauniform, die verbliebenen Haare waren wie an den Kopf gelackt. Irgendwie kam er ihr größer vor als sonst.
Vermutlich hatte er Einlagen in den Schuhen.
Sie musste grinsen. Nicht, dass sie sich über ihn lustig machen konnte, denn sie hatte selbst eine dicke Schicht Makeup aufgetragen. Schließlich war sie zum ersten Mal im Fernsehen, da wollte sie hübsch sein. »Hallo, Earl. Bereit für den Rummel?«
Er nickte, und sein Adamsapfel hüpfte auf und ab. »Myra hat meine Uniform gebügelt. Sie meint, im Fernsehen muss ein Mann messerscharfe Bügelfalten vorweisen können.«
»Sie haben echt eine tolle Frau geheiratet, Earl.«
»Ja, das stimmt.«
Ellie wandte sich wieder ihrer Lektüre zu, konzentrierte sich auf jedes Wort und versuchte sich ihren Text einzuprägen. Als die Reporter hereinströmten und Platz nahmen, blickte sie kaum auf. Bis sechs waren alle Stühle besetzt. Fotografen und Kameraleute hatten hinter den Sitzreihen Stellung bezogen.
»Es ist Zeit«, sagte Peanut und trat neben sie. »Und du hast Lippenstift an den Zähnen.«
Perfekt . Ellie wischte sich die Zähne ab, beugte sich vor und klopfte ans Mikrofon. Es gab eine Rückkopplung, dass ein kreischendes Geräusch von den Wänden widerhallte. Mehrere Anwesende hielten sich erschreckt die Ohren zu.
»Tut mir leid.« Ellie lehnte sich zurück. »Danke, dass Sie gekommen sind. Wie die meisten von Ihnen wissen, brauchen wir Ihre Hilfe. In Rain Valley ist ein kleines Mädchen aufgetaucht. Wir haben keine Ahnung, wer sie ist oder woher sie kommt. Nach unserer Schätzung ist sie zwischen fünf und sieben Jahre alt. Auf Ihren Plätzen finden sie eine Skizze von der Kleinen. Sie hat schwarze Haare und blaugrüne Augen. Gebissdaten liegen noch nicht vor, aber sie scheint weder Füllungen zu haben noch sonst wie behandelt worden zu sein. Natürlich hat sie eine Reihe von Milchzähnen verloren - was mit unserer Altersschätzung übereinstimmt. Wir haben bereits mit allen verfügbaren staatlichen und örtlichen Behörden und auch mit dem Zentrum für vermisste Kinder Kontakt aufgenommen, konnten sie bisher aber noch nicht identifizieren. Wir hoffen, dass Sie alle auf der Titelseite über sie berichten und die Information in Umlauf bringen. Irgendjemand muss schließlich wissen, wer sie ist.«
»Eine Zeichnung? Was zum Teufel soll das denn?«, fragte jemand laut.
»Wir haben leider bis dato kein Foto, die Zeichnung ist das Einzige«, antwortete Ellie.
Mort von der Rain Valley Gazette stand auf. »Wie kommt es, dass sie euch nicht einfach ihren Namen sagt?«
»Sie hat noch nicht mit uns gesprochen«, erwiderte Ellie.
»Kann sie denn überhaupt sprechen?«
»Darauf können wir bislang keine verbindliche Antwort geben. Allerdings haben uns einige Anzeichen zu der Überzeugung gebracht, dass keine körperliche
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