Wohin das Herz uns trägt
typischen Verhaltensweisen durch. Nichts davon war ihr neu.
- verzögerte Sprachentwicklung
- gelegentlich keinerlei Spracherwerb
- keine Freude an Berührungen
- unfähig/nicht willens, Blickkontakt aufzunehmen
- ignorieren der Umgebung
- scheinbare Taubheit durch das ignorieren von Geräuschen/der ganzen Umwelt
- monoton sich wiederholende Körperbewegungen, z. B. Klatschen, Fußwippen
- heftige Wutausbrüche
- unverständliches Flappern
- gelegentlich Ausbildung besonderer Fähigkeiten, beispielsweise Musik oder Malerei
- Unfähigkeit, Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzunehmen und zu entwickeln
Die Liste ging weiter. Nach den Kriterien des Diagnostischen und statistischen Handbuchs psychischer Störungen konnte ein Patient, der eine bestimmte Anzahl dieser Symptome aufwies, als autistisch diagnostiziert werden. Allerdings hatte Julia das Kind leider nicht ausführlich genug beobachten können, um die Fragen zu seinem Verhalten vollständig zu beantworten. Zum Beispiel: Ließ das Mädchen sich wirklich ungern berühren? Konnte es wechselseitige Emotionen ausdrücken? Darauf hatte Julia keine konkreten Antworten.
Aber ein Bauchgefühl.
Das Mädchen konnte sprechen, zumindest ein bisschen, es konnte hören und verstand auch ein gewisses Maß an Worten. Sonderbarerweise war Julia fest überzeugt, dass die Reaktionen der Kleinen normal waren; was nicht normal war, war die Welt um sie herum.
Es war sinnlos, die verwandten Diagnosen durchzugehen Asperger-Syndrom, Rett-Syndrom, Disintegrative Störungen der Kindheit oder PDD-NOS. Sie hatte einfach nicht genug Informationen. Stattdessen schrieb sie auf ihren Block: Morgen - soziale Interaktion beobachten, Verhaltensmuster (falls vorhanden), motorische Fähigkeiten.
Sie klickte die Mine zurück und klopfte mit dem Kugelschreiber auf den Tisch.
Irgendetwas hatte sie übersehen. Ohne zu wissen, was sie eigentlich suchte, ging sie zurück an den Computer.
Die nächsten zwei Stunden saß sie da und machte sich Notizen über alle kindlichen Verhaltens- und mentalen Störungen, die sie finden konnte. Doch nichts davon führte zu einem wirklichen Aha-Erlebnis. Es war schon fast elf, als sie vermisste Kinder bei Google eingab und zunächst zu einer Menge Seiten über Fernsehfilme und Entführungen gelangte. Das gehörte alles zum Arbeitsfeld ihrer Schwester. Dann fügte sie Wald als Suchwort hinzu, um zu sehen, wie viele Fälle es gab, die ähnlich gelagert waren und bei denen Kinder im Wald oder in einem Nationalpark verloren gegangen oder verlassen worden waren.
So stieß sie auf den Eintrag Wilde Kinder. Ein Ausdruck, dem sie seit ihrer Collegezeit nicht mehr begegnet war. Darunter ein Satzfragment... verlorene oder verlassene Kinder; die von Wölfen oder Bären aufgezogen wurden, scheinen vielleicht...
Sie bewegte den Cursor und klickte. Auf dem Bildschirm erschien ein Text.
Als Wolfskind oder Wilde Kinder bezeichnet man Kinder, oft Findelkinder, die in jungen Jahren eine Zeit lang isoliert von Menschen aufwuchsen und sich deshalb in ihrem erlernten Verhalten von normal aufgewachsenen Kindern unterscheiden. Es gibt zahlreiche Geschichten und Legenden über Kinder, die von Wölfen oder Bären adoptiert und aufgezogen wurden, aber die Wissenschaftler konnten bisher nur einige wenige reale Fälle studieren. Seit der Mitte des 14. Jahrhunderts sind mindestens 53 Wilde Kinder gefunden worden.
Zu den bekannteren Wolfskindern gehören:
- Die drei ungarischen Bären-Jungen (17. Jahrhundert)
- Das Mädchen von Oranienburg (1717)
- Peter, der Wilde Junge von Hameln (1726)
- Victor von Aveyron (1797)
- Kaspar Hauser (1828)
- Kamala und Amala, die Wolfskinder von Midnapore in Indien (1920)
- Genie (Los Angeles 1970)
Der zweitjüngste Fall stammte aus den 1990ern: ein ukrainisches Mädchen namens Oxana Malaya, das angeblich bis zum Alter von acht Jahren mit Hunden zusammengelebt hatte. Sie lernte nie ein normales Sozialverhalten. Heute, mit dreiundzwanzig Jahren, lebte sie in einem Heim für geistig Behinderte. 2004 wurde ein siebenjähriger Junge, der angeblich ebenfalls bei wilden Hunden gelebt hatte, in den tiefen sibirischen Wäldern gefunden. Bis zum heutigen Tag hatte er noch nicht sprechen gelernt.
Julia runzelte die Stirn und druckte sich die Seiten aus.
Es war höchst unwahrscheinlich, dass es sich bei dem Mädchen um ein echtes Wolfskind handelte ...
Andererseits ...
Der Wolfswelpe.
Ihr Essverhalten.
Aber wenn es so wäre ...
Dieses Kind war
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