Wohin das Herz uns trägt
sind jedenfalls nicht identisch mit denen der registrierten vermissten Kinder. Natürlich ist das nicht ungewöhnlich. Kein Mensch lässt seinen Kindern routinemäßig die Fingerabdrücke abnehmen. Wir haben eine Blutprobe, wenn sich also jemand meldet, können wir jederzeit einen DNA-Test machen.« Ellie seufzte. »Mit anderen Worten, wir hoffen, dass die Mutter der Kleinen die morgige Zeitung liest und sich meldet. Oder dass du sie dazu bringst, uns ihren Namen zu verraten.«
»Aber was ist, wenn es ihre Mutter war, die sie gefesselt hat und sterben lassen wollte?«
Ellie sah sie mit festem Blick an. Ganz offensichtlich war ihr der gleiche Gedanke auch schon durch den Kopf gegangen. Sie wussten beide, dass die überwältigende Mehrzahl von Kindesentführungen auf das Konto von Familienangehörigen ging. »Dann solltest du lieber die Wahrheit aus ihr herausbekommen«, sagte sie leise. »Das ist die einzige Möglichkeit, wie wir ihr helfen können.«
»Es gibt doch nichts Besseres als ein bisschen Druck.«
»Auf uns beide, glaub mir. Bis vor ein paar Tagen bestand meine größte Herausforderung darin, den Leuten im Pour House am Freitagabend die Autoschlüssel abzunehmen.«
»Wahrscheinlich sollten wir eins nach dem anderen in Angriff nehmen. Zuerst mal brauche ich einen Raum, wo ich mit ihr arbeiten kann.«
»Ist schon in Arbeit.«
»Gut.« Julia lächelte. »Warte nicht auf mich. Es wird sicher spät werden.« Damit trat sie über die Schwelle auf den strapazierfähigen braunen Teppich.
Aber Ellie berührte ihre Schulter. »Jules?«
Julia wandte sich um. Das Gesicht ihrer Schwester lag halb im Schatten. »Ja?«
»Ich glaube, dass du es schaffst.«
Überrascht nahm Julia zur Kenntnis, wie viel ihr das bedeutete. Da sie jedoch stark bezweifelte, dass ihre Stimme normal klingen würde, sagte sie nicht danke, sondern nickte nur stumm, drehte sich dann auf dem Absatz um und ging in die hell erleuchtete Bibliothek. Allerdings hörte sie noch, wie Ellie tief aufseufzte und murmelte: »Ich glaub auch an dich, große Schwester. Ich weiß, du wirst die Familie des Mädchens finden.« Dann fiel die Tür krachend ins Schloss.
Julia zuckte innerlich zusammen. Es war ihr nie in den Sinn gekommen, ein derartiges Kompliment zu erwidern. Sie hatte ihre Schwester immer für unbesiegbar gehalten, und Ellie hatte Anerkennung nie so dringend gebraucht wie Julia. Ellie erwartete, von der Welt geliebt zu werden, und die Welt erfüllte ihr diesen Wunsch. Irgendwie war es beunruhigend, so viel Verletzlichkeit an ihrer Schwester zu entdecken, eine Zerbrechlichkeit, die ihr Äußeres, diese Mischung aus hartgesottener Karrierefrau und Schönheitskönigin, Lügen strafte. Da hatten sie doch tatsächlich etwas ganz Unerwartetes gemeinsam.
Julia ging um die in Gitterform platzierten Tische herum zur Reihe mit den Computern. Es waren fünf an der Zahl vier mehr, als sie erwartet hatte jeder auf einem einzelnen Schreibtisch unter einer Pinwand aus Kork, die mit Buchhüllen und allerlei Flugblättern für lokale Veranstaltungen gespickt war.
Dann zog sie einen gelben Notizblock und einen schwarzen Stift aus ihrer Mappe und forschte in den Innentaschen nach ihrem Diktiergerät. Als sie es endlich gefunden hatte, legte sie neue Batterien ein, stellte es an und sagte: »Aktennummer eins, Patientenname unbekannt.«
Sie drückte auf die Stopptaste, setzte sich auf den harten Holzstuhl und rutschte näher an den Monitor. Surrend erwachte der Computer zum Leben, der Bildschirm leuchtete auf. Innerhalb von Sekunden surfte sie im Netz und machte sich Notizen. Während sie schrieb, sprach sie auf den Rekorder:
»Fall eins, Patientin: weibliches Kind, Alter unbekannt. Scheint zwischen fünf und sieben Jahre alt zu sein. Name unbekannt.
Das Kind zeigt eingeschränkte bis fehlende Sprachfähigkeit. Körperliche Diagnose: dehydriert und unterernährt. Umfassende Narbenbildung, möglicherweise von Fesseln, deutet auf ein ernstes Trauma in der Vergangenheit hin. Ausgeprägte Beeinträchtigung der Sozialisation, kaum fähig zu altersgemäßer Interaktion. Verharrt stundenlang völlig regungslos, unterbrochen von Perioden hoher Erregbarkeit und Irritation. Außerdem scheint das Mädchen große Angst vor glänzenden Metallobjekten zu haben. Vorläufige Diagnose: Autismus.
Stirnrunzelnd schaltete sie das Diktiergerät wieder aus. Das fühlte sich alles nicht richtig an. Sie gab Autismus, Symptome bei Google ein und las die Liste der dort angegebenen
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