Wohin der Wind uns trägt
füllte seinen Futtertrog und fing an, Zaumzeug und Zügel wegzuräumen, die in wirren Haufen auf dem Boden herumlagen. Genüsslich tat Outsider sich an seinem Futter gütlich, schüttelte hin und wieder den Kopf und scharrte mit den Hufen. Jo arbeitete weiter, und die übrigen Pferde wurden ebenfalls aus dem Rennstall der Comptons zur Heimfahrt in den Transporter geführt. Zu guter Letzt holte Jo sich eine braune Papiertüte aus der Fahrerkabine des Wagens und setzte sich auf die Stufen, die den Pferdebereich von den Schlafplätzen der Mitarbeiter trennten. Nachdem sie ein nicht mehr ganz frisches Sandwich aus der Tüte geangelt hatte, starrte sie ins Leere, kaute auf dem Brot herum und dachte dabei an Simon.
»Mein Gott, ich bin so blöd«, murmelte sie ärgerlich und stopfte sich den letzten Bissen in den Mund.
Auf einmal war sie unbeschreiblich müde. Wie hatte sie nur so dumm sein können, sich in einen Mann zu verlieben, der bald heiraten würde? Doch sie konnte ihre Sehnsucht einfach nicht verdrängen, die sie beim Anblick von Lelia und Simon empfunden hatte – und auch nicht die Leere nach dem Abschied.
»Auch andere Mütter haben schöne Söhne«, hielt sie sich streng vor Augen, nachdem das letzte Pferd vorschriftsmäßig gesichert war. Eingezwängt zwischen zwei Kollegen sitzend, nahm sie die angebotene Coladose entgegen und stimmte entschlossen in die grölenden Siegesgesänge ein, während der Bus quer durch England zurück nach Stockenham Park fuhr.
Endlich wieder in ihrem Zimmer, hatte sie sich von dem Triumphgefühl ihrer Kollegen anstecken lassen. Die Ströme von Champagner, die geflossen waren, nachdem jedes Pferd wieder wohlbehalten in seiner Box stand, hatten ihre Wirkung ebenfalls nicht verfehlt.
Sie redete sich ein, Simon würde auf wundersame Weise plötzlich zur Vernunft kommen. Er würde seinen schweren Fehler erkennen, nach Stockenham Park eilen, sie in die Arme nehmen und ihr ewige Liebe schwören. Mit diesem Gedanken kuschelte sie sich ins Bett und schlief sofort ein.
13
In Stockenham Park wurde noch einige Tage nach Outsiders Sieg fröhlich gefeiert. Jeden Abend gab jemand im George & Dragon eine Runde aus oder veranstaltete eine Privatparty, zu der natürlich alle eingeladen waren. Bald fragte sich Jo, ob es sich überhaupt noch lohnte, zu Bett zu gehen. Die allgemeine Übermüdung forderte bereits ihren Tribut, und während der Bahnarbeit herrschte eine gereizte Stimmung.
An einem Dienstagmorgen, drei Wochen nach dem Rennen, wachte Jo hundemüde auf. Obwohl sie nach den ersten beiden Runden Black-Velvet-Cocktails zu Cola gewechselt hatte, pochten ihr die Schläfen, und ihre Bronchien litten immer noch unter den Folgen der verqualmten Luft. Eine Weile blieb sie mit geschlossenen Augen liegen und schwor sich, nie wieder diese Mischung aus Guinnessbier und Champagner anzurühren und außerdem heute Abend bald schlafen zu gehen – ganz gleich, wozu die anderen sie noch überreden wollten. Am Wochenende sollte in York ein wichtiges Rennen stattfinden, und gegen Ende des Monats mussten einige Zweijährige nach Frankreich gebracht werden. Widerstrebend schlug Jo die Decke zurück, setzte sich auf und rieb sich die Augen. Die Luft im Zimmer war stickig. Offenbar würde heute wieder einer dieser heißen Julitage werden, an denen die Pferde leicht ermüdeten und widerspenstig wurden. Sie sah, dass durch die halb offenen Vorhänge bereits das Sonnenlicht hereinfiel.
Ihr Blick fiel auf das ordentlich gemachte Bett ihrer Zimmergenossin Faith, und sie sah erschrocken auf die Uhr. Sie musste zweimal hinschauen, weil sie ihren Augen nicht traute: Sie hatte zwei Stunden verschlafen. Jo sprang aus dem Bett und kontrollierte den Wecker. Wie befürchtet, hatte sie vergessen, ihn einzuschalten. Rasch schlüpfte sie in Kleider und Reitstiefel, griff nach Jacke und Kappe und rannte aus dem Haus und zu den Ställen. Kurt würde ihr den Kopf abreißen, denn heute hätte sie nicht nur mit ihren eigenen Pferden arbeiten sollen, sondern auch mit denen von John, da ihr Kollege zur Beerdigung seiner Großmutter gefahren war. Keuchend hastete Jo weiter. Vielleicht würde sie zumindest einen Teil der Arbeit rechtzeitig schaffen. Dann jedoch sah sie zu ihrem Entsetzen, dass die Reiter bereits einer nach dem anderen auf den Hof zurückkehrten. Immer noch in der Hoffnung, dass niemand sie vermisst hatte, schlich sie nach dem letzten Pferd in den Stall, um beim Absatteln zu helfen. Aber natürlich war Kurt ihr
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