Wohin der Wind uns trägt
aufhalten, aber er hat nicht auf mich gehört. Ich habe es versucht …« Sie schluchzte auf. »Wie viel muss ich denn noch ertragen? Und das alles nur wegen dieser verdammten Ställe! Manchmal glaube ich, du liebst sie mehr als deine eigene Familie. Hast du denn nichts aus dem Leid gelernt, das du mir und deinem Vater zugefügt hast? Wenn es nach mir ginge, könnte der ganze Laden bis auf die Grundmauern abbrennen.«
Jo fühlte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. Sie war wie vom Donner gerührt und verstand nicht, warum ihre Mutter sie so plötzlich angriff. Sie verkniff sich aber die Retourkutsche, die ihr auf der Zunge lag. Eine Schwester eilte herbei.
»Warum gehen Sie nicht frische Luft schnappen und etwas essen, Mrs Kingsford?«, sagte sie streng. »Es war eine sehr lange und anstrengende Nacht. Vielleicht sollten Sie Ihre Diskussion ein andermal fortsetzen.«
»Ich bleibe noch ein wenig bei meinem Mann. Danke, Schwester. Aber du solltest nach Hause fahren, Jo«, entgegnete Nina barsch.
Zum ersten Mal fielen ihr die dunklen Ringe unter den Augen ihrer Tochter auf, die in dem eingefallenen Gesicht viel zu groß wirkten.
»Joan ist im Wartezimmer. Sie hat darauf bestanden«, fügte sie, ein wenig freundlicher, hinzu. »Am besten stellst du dich unter die heiße Dusche und schläfst ein wenig. Bertie kommt bald nach. Falls sich der Zustand deines Vaters verändern sollte, rufe ich dich an.«
Jo war erleichtert, dass ihre Mutter sich wieder vernünftig verhielt.
»Eine gute Idee, Mum. Hier kann ich sowieso nichts ausrichten.« Sie lächelte traurig. »Ich liebe dich«, sagte sie und küsste Nina auf die Wange.
Nina nickte, tätschelte noch einmal Jos Hand und sackte ausgelaugt auf ihrem Stuhl zusammen.
Jo verließ die unwirkliche Welt der Intensivstation und kämpfte gegen die Angst, die sie zu überwältigen drohte. Auch sie fühlte sich erschöpft, und die Launenhaftigkeit ihrer Mutter machte ihr Sorgen. Doch am meisten belastete sie die Erkenntnis, dass sie nun von ihnen dreien die Starke sein musste. Ihre Mutter war völlig hilflos und überfordert. Ja, sie würde in den Ställen nach dem Rechten sehen müssen, von Bertie war in dieser Hinsicht nichts zu erwarten. Schließlich hatte er Pferde und alles, was damit zusammenhing, schon immer verabscheut. Dad würde es das Herz brechen, wenn es mit der Kingsford Lodge bergab gehen sollte. Außerdem hing der Lebensunterhalt der Familie von dem Rennstall ab.
Im Wartezimmer fiel Joan Jo um den Hals und drückte sie an sich. »Er wird es schaffen, du wirst sehen. Dein Vater ist kein Mensch, der sich kampflos geschlagen gibt. Bald wird er hier hinausspazieren, denke an meine Worte. Und jetzt bringe ich dich nach Hause und stecke dich in die Badewanne und anschließend ins Bett. Du siehst ziemlich erledigt aus.«
»Nein, eigentlich geht es mir recht gut. Mir ist gerade einiges klar geworden. Als Erstes muss ich zu den Ställen, um dort nach dem Rechten zu sehen. Kannst du mich hinfahren?«, erwiderte Jo rasch.
»Wird gemacht«, antwortete Joan und wünschte, ihr Mann wäre nicht auf Geschäftsreise in Hongkong.
»In einer Stunde hole ich dich wieder ab«, sagte sie, als sie vor dem Eingang des Rennstalls hielten.
Dankbar lächelte Jo sie an und schritt auf das große, grüne Tor zu. Joan drehte den Zündschlüssel um und zuckte leicht zusammen, als sie bei Jo den typischen Gang der Kingsfords erkannte. Beim Davonfahren dachte sie, dass man das Mädchen von hinten leicht mit ihrem Vater hätte verwechseln können, wäre das lange blonde Haar nicht gewesen.
Der Hof lag verlassen da. Die Pferde standen nach dem morgendlichen Training in ihren Boxen. Jo beschloss, nach den Tieren zu schauen, bevor sie sich auf die Suche nach Gloria machte. Sie schlenderte von Box zu Box und sah viele alte Bekannte und einige Neuzugänge. Ihr fiel auf, dass ein paar Boxen leer waren.
Bei jedem Schritt rechnete sie damit, ihren Vater um die Ecke biegen zu sehen. Vertraute Gegenstände und Gerüche riefen traurige Erinnerungen in ihr wach. Arctic Gold wieherte zornig. Sie bog um die Ecke und schlüpfte in Fizzys Box. Kurz fand sie eine tröstende Zuflucht, als sie das sanfte Pferd umarmte, ihm etwas zuflüsterte und den Kopf an seinen Körper lehnte. Der Pferdegeruch beruhigte sie. Sie spürte seinen warmen Atem auf der Hand, als er, auf der Suche nach einem Stück Apfel, daran knabberte. Während sie sein weiches goldgelbes Fell streichelte, hörte sie Hufgetrappel auf
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