Wohin der Wind uns trägt
Knopfaugen.
Vorsichtig stand Jo auf, näherte sich dem Vogel und streckte die Hand aus. Manchmal hüpfte er darauf, doch heute schlug er mit den Flügeln und flatterte auf einen Ast, wo er den Schnabel auf- und zuklappte und seinen unverkennbaren schrillen Ruf ausstieß. Da entdeckte Jo Chloe auf einem der Zweige. Ein Flügel hing schlaff herab, und sie hatte einige Schwanzfedern eingebüßt. Joey wollte ihr wohl zeigen, dass er sich Sorgen um seine Partnerin machte.
Von ihrem eigenen Elend abgelenkt, lief Jo ins Haus, um Vogelfutter zu holen, das sie auf das Blechtablett gab. Dann wartete sie ab und redete dabei beruhigend auf die Vögel ein. Joey hüpfte noch immer hin und her und beobachtete sie von seinem Ast aus. Nach einer Weile kam er heruntergeschossen, schnappte sich einen Schnabel voll Vogelfutter und kehrte zurück zu Chloe. In den nächsten zehn Minuten sah Jo zu, wie er immer wieder auf und ab flog und seine Partnerin fütterte.
Der Anblick der beiden wunderhübschen Geschöpfe tröstete sie. Sie gehörten hierher, in ihre Heimat, die sie selbst in ihrem Leid stets aufs Neue anrührte. Wie konnte sie fortgehen, um nach England zu ziehen?
Ende Dezember – Jo fühlte sich gerade etwas besser und zuversichtlicher – ließ Nina sich überreden, Charlie in ein Pflegeheim zu geben.
»Tu ihm das bitte nicht an«, flehte Jo, aber ihre Mutter ließ sich weder von Argumenten noch von Tränen erweichen.
»Du bist jung und liebst ihn, doch er wird nicht mehr gesund. Dein Dad wird nie wieder der Mann sein, den wir kannten«, sagte Nina mit unsicherer Stimme. Sie hatte lange mit sich gerungen. Ihr fehlte das blinde Vertrauen ihrer Tochter. »Die Ärzte finden, es ist das Beste für uns alle«, verkündete sie entschlossen.
Jo wusste, dass sie der Tag, an dem Charlie verlegt wurde, bis ans Ende ihrer Tage verfolgen würde. Als man ihn im Rollstuhl in sein modern eingerichtetes Zimmer schob, starb etwas in seinen Augen. Jo konnte es kaum ertragen, ihn anzusehen. Hilflos und verwundert starrte er sie an.
»Man wird sich gut um dich kümmern, Charlie, mein Schatz. Alles kommt in Ordnung. Wir besuchen dich, so oft wir können«, rief Nina, als spräche sie mit einem schwerhörigen Kind. Den Tränen nah, hauchte sie ihm einen Kuss auf die Wange.
Jack Ellis stand neben ihr. Er fand es entsetzlich, seinen Freund in diesem Zustand zu erleben, und war fest entschlossen, Charlies Familie nach Kräften zu unterstützen. Jo unterdrückte die Tränen und bückte sich, um ihren Vater zu küssen.
»Wehe, wenn du aufgibst, Dad«, befahl sie mit zusammengebissenen Zähnen und umfasste seine heile Hand so fest, dass er zusammenzuckte.
»Hör mir zu: Wir holen dich bald hier heraus«, versprach sie angespannt.
Wieder zu Hause, stürmte sie hinaus auf die Veranda. Sie hasste die ganze Welt und wünschte, sie hätte sich nicht so hilflos gefühlt. Während sie mit verschränkten Armen dastand und nachdachte, kam Joey herbeigeflogen, landete elegant auf dem Blechtablett und begann zu zwitschern. Kurz darauf erschien eine völlig genesene Chloe neben ihm und plusterte die knallroten Federn auf. Die beiden Vögel schnäbelten mit einem leise klappernden Geräusch. Beim Anblick dieser liebevollen Geste und angesichts der heilenden Kräfte der Natur wurde Jo wehmütig. Sie schwor sich, ihren Vater nach Hause zu holen, noch ehe das Jahr vorüber war.
Trotz ihres Elends hatte der Alltag Jo bald wieder. Archie gewann weiter Rennen um Rennen, während Pete ihr bei der Verwaltung der Ställe zur Hand ging. Obwohl die Anzahl der Pferde leicht abgenommen hatte, hatte Jo einen vollen Terminkalender. Die Pferde der Kingsford Lodge siegten bei Rennen in ganz Australien – in Brisbane, Tasmanien und Melbourne sowie bei einigen kleineren Provinzveranstaltungen.
Von dem Preisgeld kaufte Jo zwei hochwertige Einjährige und verliebte sich außerdem in ein schlaksiges Jungtier namens Sleeper. Der Kleine – Vater Night Sky, Mutter Lightning Strike – hatte etwas an sich, das sie an Outsider erinnerte. Er war hässlich und unbeholfen und stammte aus einer verhältnismäßig unbekannten Zucht, weshalb er Jo nur lächerliche zweitausend Dollar kostete. Dennoch war er ein Vollblutpferd. Sie ahnte, dass er über verborgene Fähigkeiten verfügte, was selbst Archie anfangs nicht so recht glauben wollte. Aber der junge Hengst hatte eine seltsame Angewohnheit: Obwohl er auf der Rennbahn an Schnelligkeit kaum zu überbieten war, verwandelte er sich
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