Wohin der Wind uns trägt
weichen Lippen küsste. Aber er hatte sich vor langer Zeit damit abgefunden, dass das niemals geschehen würde. Zumindest hatte sie das Foto von Simon entfernt, das ihm immer ein Dorn im Auge gewesen war. Außerdem war heute schon der dritte Tag in Folge, an dem sie ihren Verlobungsring nicht trug. Auf der Suche nach einem Stift tastete er seine Taschen ab.
»Was meinst du damit?«, fragte Jo überrascht, aber geschmeichelt. Sie stellte das Foto sorgfältig zurück an seinen Platz und trank einen Schluck von dem heißen Kaffee, den Gloria ihr gebracht hatte.
»Es würde ihm nicht besser gehen, wenn du nicht gewesen wärst. Das ist ein Thema, über das im Übrigen die ganze Branche spricht«, sagte Phillip.
Jo errötete.
»Wie kommt deine Mutter damit zurecht?«, fuhr Phillip, der ihre Verlegenheit spürte, rasch fort.
»Sie gewöhnt sich allmählich daran. Langsam spielt sich ein fester Tagesablauf ein, und außerdem haben sie eine Vollzeit-Krankenschwester, die ihnen hilft. Mum hat sich irgendwie verändert. Sie ist ruhiger geworden und verkraftet Dads Krankheit viel besser, als ich gedacht hatte. Natürlich neigt sie immer noch dazu, hektisch zu reagieren, aber wir streiten uns nicht mehr so heftig wie früher, und es ist auch keine Rede davon, die Kingsford Lodge zu verkaufen«, erwiderte Jo. »Außerdem haben wir ein langes Gespräch geführt, und anschließend habe ich mich schon viel besser gefühlt. Obwohl sie es nicht so deutlich ausgedrückt hat, war es ihr ziemlich peinlich, wie alles gelaufen ist. Sie will einfach nur unser Bestes.«
Seit Charlie die beiden magischen Worte »nicht verkaufen« gesprochen hatte, besserte sich sein Zustand von Tag zu Tag. Er war zwar noch immer auf den Rollstuhl angewiesen, machte beim Sprechen aber Fortschritte oder schrieb mühsam mit der linken Hand auf, was er sagen wollte. Jo, die beobachtete, wie ihr Vater selbstbewusster wurde und wie sein Kampfgeist zurückkehrte, sprach so häufig wie möglich mit ihm. Sie machte Scherze, munterte ihn auf und besprach mit ihm die wichtigsten den Rennstall betreffenden Angelegenheiten. Außerdem fand sie endlich heraus, was die seltsame Silbenfolge bedeutete, mit der er sie alle in den Wahnsinn getrieben hatte.
Inzwischen wieder ganz klar, beschrieb er ihr, wie er versucht hatte, ihr mitzuteilen, dass er an sie glaubte und dass sie das Zeug dazu hatte, den Stall bis zu seiner Rückkehr weiterzuführen. Aber er brachte nur unverständliches Gestammel zustande. Jo war zu Tränen gerührt, als er ihr anvertraute, er habe eine Woche lang geweint, weil sie sein wirres Gerede als Kritik gedeutet hatte. Jo konnte nur ahnen, wie verzweifelt er gewesen sein musste, denn er war, vollständig bei Verstand, in einem Körper gefangen, der ihm den Dienst versagte.
Jo wagte es, ihm weitere Fragen zu stellen, denn sie war neugierig, was er von den um ihn herum geführten Gesprächen verstanden hatte. Aber er schwieg eisern, mit traurigen Augen. Offenbar war die Erinnerung zu schmerzlich, um sie in Worte zu fassen. Jo fand sich damit ab, dass sie das seiner Meinung nach nichts anging, und bohrte nicht weiter nach. Sie war froh, ihren Vater wiederzuhaben.
»Du musst uns zum Essen besuchen, damit Dad endlich den Tierarzt kennenlernt, der seine Pferde versorgt. Er hat mich schon gründlich über dich ausgehorcht«, sagte sie grinsend zu Phillip.
Ihre zierliche Gestalt versank fast in dem riesigen Sessel. Sie entdeckte in seinem Blick mehr als nur höfliche Zustimmung, kramte verlegen nach ihrem Notizblock und warf dabei einen Stapel Briefe um. Rasch bückte sie sich, um sie aufzuheben und wieder auf den Schreibtisch zu legen, ohne dabei auf ihr Herzklopfen zu achten.
»Also, fang mit den schlechten Nachrichten an. Wie macht sich Picassos Bänderdehnung?«, begann sie, räusperte sich und war wieder ganz die Profitrainerin.
In den nächsten zwanzig Minuten erörterten sie die Leistungen der Pferde, ihre verschiedenen Beschwerden, Jos Schwierigkeiten, geeignete Jockeys zu finden und einige andere Probleme. Draußen klapperten die Hufe der Pferde auf dem Pflaster, die in ihre Boxen zurückgeführt wurden, und Zaumzeug klirrte. Stallhelfer fegten den Hof, spritzten ihn mit dem Schlauch ab und sorgten für Ordnung, während der Futtermeister Les, ein Mann von Anfang vierzig, die nächste Fütterung vorbereitete.
Phillip sah auf die Uhr und stand widerstrebend auf.
»Ich lasse dich nur ungern allein, aber ich habe noch ein paar Patientenbesuche
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