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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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Hochzeit schwanger und gebar im Februar 1922 ein Mädchen, das Paul und sie nach seiner verstorbenen Mutter Anna nannten.
    Das Tagebuch, das Gretl über Anna führte, ist durchdrungen von einem Sinn für Ordnung und Fortschritt – alles geschieht auf die richtige Weise zur richtigen Zeit, beide Seiten der Familie befassen sich mit dem kleinen Wesen. Gretl hielt Annas erste Laute fest, ihr erstes Lachen, ihre erste Ausfahrt. Sie verzeichnete Annas erste größere Geschenke von den Gallias und den Herschmanns – ein goldenes Herz an einem Goldkettchen von Hermine, ein blutrotes Korallenhalsband von Pauls wohlhabendstem Bruder, Franz. Sie berichtete über Annas erste Schritte, die sie mit zehn Monaten allein tat, während sie im Restaurant waren, über den ersten Zahn, vierzehn Tage nach ihrem ersten Geburtstag.
    Alles andere lässt vermuten, dass die Ehe von Gretl und Paul sich bald verschlechterte. Im Rückblick auf das Geschehene dachte Gretl, ihr größter Fehler sei gewesen, sich damals, als man Paul ein Lehramt in Deutschland anbot, nicht von den Familien zu lösen, die sich ständig einmischten. Stattdessen blieben sie in Wien, wo die Herschmanns Gretl ebenso wenig akzeptierten wie die Gallias Paul. Hermine war besonders schwierig. Nachdem Gretl und Erni geheiratet hatten, verlangte sie, dass sie jeden Tag anriefen, mit ihren Ehegatten jedes zweite Wochenende zum Mittagessen in die Wohllebengasse kamen und im Sommer einige Zeit in Altaussee verbrachten. Mizzi fuhr pflichtbewusst jedes Jahr in die Villa Gallia, Paul hingegen nie.
    Weiteren Stress brachten die wirtschaftlichen Zustände. Österreich hatte durch seine Niederlage im Krieg weit mehr Gebiete verloren als sein wichtigster Verbündeter Deutschland; dadurch war Wien vom Epizentrum eines 55-Millionen-Reiches zur Hauptstadt eines Nationalstaats mit bloß sieben Millionen geworden, dessen Grenzen mehr oder minder mit den Sprachgrenzen zusammenfielen. Als die Hyperinflation immer virulenter wurde und die österreichische Währung von Tag zu Tag an Wert verlor, musste man 1922 für einen amerikanischen Dollar bereits 83.000 Kronen hinlegen; ein Jahr zuvor waren es 177 gewesen. Ausschlaggebend war nun, dass man umgehend ausgab, was man verdiente. Paul ließ sich sein Gehalt von der Lederfirma der Familie nicht mehr wöchentlich auszahlen, sondern täglich, damit Gretl das Nötigste kaufen konnte, bevor die Preise wieder in den Himmel stiegen. Da sie vorher nie einen Haushalt geführt hatte, stellte sich das unter solchem Druck als besondere Schwierigkeit heraus.
    Der Antisemitismus nahm darüber hinaus ständig zu, und so wurden ihre unterschiedlichen Religionen mehr und mehr zum Thema, als Paul und Gretl sich wegen Annas Religion entscheiden mussten. Wäre Paul der jüdischen matrilinearen Tradition gefolgt, dann wäre Gretls Religion ausschlaggebend gewesen; da sie römisch-katholisch war, wäre es auch Anna geworden. Doch so wie Paul darauf bestanden hatte, dass sie nach seiner Mutter benannt wurde, so verlangte er nun, dass sie als Jüdin erzogen werden solle, und wieder gab Gretl nach. Für ihn war das eine Sache der Kontinuität, eine Fortführung der Tradition. Für sie war es eine Rückkehr zu etwas, das ihre Eltern abgelegt hatten.
    Ihr erstes Weihnachten als dreiköpfige Familie verschärfte diesen Konflikt, weil Gretl es mit einem prächtig geschmückten Baum und Geschenken begehen wollte. Viele assimilierte Wiener Juden taten das gerne, genauso wie sie zu Ostern Eier schenkten. Paul jedoch hatte seine Antipathie gegenüber christlichen Festen, die er schon vor der Ehe gezeigt hatte, nicht abgelegt. Er hielt Gretl nicht nur davon ab, in ihrer Wohnung irgendwelche christlichen Symbole zur Schau zu stellen, sondern verweigerte ihr auch einen Lichterbaum. Er erlaubte bloß einen mit Herzen geschmückten Fichtenzweig; Gretl weinte, wie sie schrieb, und die zehn Monate alte Anna leckte ihr die Tränen ab »wie ein treues Hunderl«. Wahrscheinlich trennten sich Gretl und Paul kurz danach.
    Die »Scheidung von Tisch und Bett«, die eine Vermögensregelung und Alimente, aber keine Wiederverheiratung erlaubte, war die einer Scheidung am nächsten kommende Regelung, die einer österreichischen Katholikin wie Gretl möglich war. Das österreichische Zivilrecht machte es relativ leicht, sie zu erlangen, falls beide Partner einwilligten. Wenn keine Kinder vorhanden waren und die Parteien sich über die Bedingungen einigten, stimmten die Gerichte ihrem

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