Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
Paul starb und keine Kinder hatte, hingen seine Ansprüche von der Dauer der Ehe ab, wie eine Belohnung für eine lange Dienstzeit. Falls Gretl binnen drei Jahren nach der Eheschließung starb, würden drei Viertel ihres Heiratsgutes an ihre Erben fallen, während Paul ein Viertel zustand. Falls sie binnen drei bis sechs Jahren starb, behielt Paul die Hälfte, nach sechs bis neun Jahren drei Viertel. Nach neun Jahren würde Paul alles behalten.
Eine weitere Klausel regelte, was geschehen sollte, wenn Gretl starb und Kinder vorhanden waren. Hätte sie ihm vertraut, so hätte Gretl Paul das gesamte Heiratsgut hinterlassen und erwartet, er würde davon das Nötige verwenden, um für die Kinder zu sorgen und ihnen den Rest als Erbteil zu hinterlassen. Hätte sie Zweifel gehabt, dann hätte sie von ihm verlangt, das Kapital zu erhalten, und ihn autorisiert, das Einkommen für die Kinder zu verwenden. Die Abmachung sah vor, dass er nichts erhalten sollte, egal wie lange die Ehe dauerte. Eine Endklausel spezifizierte, dass Paul im Fall einer Trennung die Wohnung verlassen und alle in der Abmachung als ihr Eigentum bezeichneten Gegenstände zurücklassen müsse; zudem musste er Alimente bezahlen, die Gretls üblichem Lebensstandard entsprachen.
Laut meiner Mutter kaufte Gretl für ihre neue Wohnung fertige Möbel. Nachdem sich die Streitereien zwischen Norbert Stern und Moriz wegen Josef Hoffmann als so destruktiv erwiesen hatten, kann man sich leicht vorstellen, dass Gretl keine Wiederholung dieses Experiments riskieren wollte. Ein von Franz von Krauß, der das Haus der Familie in der Wohllebengasse entworfen hatte, angefertigter Grundriss der Wohnung lässt aber vermuten, dass Gretl ihn engagierte, um einige Räume einzurichten, während sie für die anderen fertige Möbel kaufte. Diese Frage des Designs ist wichtig, denn die Art und Weise, wie Wiener Ehepaare ihre Wohnungen einrichteten, war nach wie vor eine der wichtigsten Möglichkeiten, ihren Geschmack und ihr Renommee zu präsentieren. Vom Architekten entworfene Möbel unterstrichen die Individualität der Besitzer; Möbel aus Massenproduktion ließen sie durchschnittlich wirken. Erni und Mizzi lieferten den direkten Vergleich: Hoffmann hatte zwei ihrer Zimmer eingerichtet, zwei weitere waren von Wilhelm Legler, der bei Carl Moll in der Galerie Miethke ausstellte.
Indem Gretl Krauß engagierte, begannen Paul und sie ihr Eheleben ziemlich ähnlich wie Erni und Mizzi. Beide Paare mieteten Wohnungen in Hietzing, dem vornehmen Außenbezirk, wo Nathan und Josefine Hamburger gelebt hatten. Beide bestellten vom Architekten entworfene Möbel und zeigten dabei einen beinahe vollständigen Mangel an unabhängigem Geschmack. Beide beschäftigten je eine Hausangestellte, die kochte, einkaufte und putzte. Doch Gretl war nur zu bewusst, dass sie auf viel größerem Fuß hätte leben können, hätte sie Norbert Stern geheiratet. Die Wohnung hatte bloß einen Salon und ein Raucherzimmer, anstatt einen Salon, ein Speisezimmer, ein Raucherzimmer und ein Boudoir. Krauß richtete wahrscheinlich nur zwei oder drei Räume ein statt sechs, und außerdem besaß er nicht Hoffmanns Prestige.
Dass Erni und Mizzi ein größeres Vermögen besaßen, stachelte Gretls Gefühl, benachteiligt zu sein, nur noch an. Ausschlaggebend war Ernis Position als Nachfolger ihres Vaters; für kurze Zeit ersetzte er Moriz im Aufsichtsrat der Wiener Werkstätte, unmittelbar danach wurde er Geschäftsführer der im Familienbesitz stehenden Spirituosenfabrik Johann Timmels Witwe und erwarb einen Hälfte-Anteil. Obwohl Erni keine sonderliche Begabung als Geschäftsmann zeigte, war diese Firma weit größer als das Herschmannsche Lederwarengeschäft, und Erni streifte die Hälfte des Gewinns ein, während Paul bloß ein Fünftel von dem erhielt, was die Lederfirma abwarf.
Gretls Empfindlichkeit, was ihre Lage und ihren Status betrifft, zeigte sich an einem Wortwechsel, den sie mit Otto Hamburgers ehemaliger Haushälterin und nunmehrigen Ehefrau Dagmar hatte, die eben Hausherrin mit Bediensteten in ihrem eigenen Haus in Bruntál geworden war. Die Umkehrung in den Lebensumständen der beiden Frauen – der Aufstieg Dagmars und der Niedergang Gretls – hatte den Ausschlag gegeben. Als Dagmar bemerkte: »Ihr lebt ja wie die Proleten«, gab Gretl zurück: »Du solltest es wissen.« Doch in einem Punkt fühlte Gretl sich selig: Erni und Mizzi konnten keine Kinder haben, doch sie wurde binnen zwei Monaten nach der
Weitere Kostenlose Bücher