Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
bei ihrer Herrin zu sein. Zwei Hausmädchen, die sich im Erdgeschoß ein Schlafzimmer teilten, putzten und staubten ab und halfen bei der Essenszubereitung. Hermine war stolz darauf, ihre Bediensteten gut zu behandeln, dennoch arbeiteten sie vom Frühstück bis nach dem Abendessen und hatten bloß jedes zweite Wochenende einen halben Tag frei.
Zudem arbeiteten noch einige andere Frauen regelmäßig für Hermine, sie wohnten aber nicht im Haus. Jeden Morgen kam eine Friseurin, um ihr Wellen zu legen, bevor der lange Zopf hochgesteckt wurde. Zwei weitere Frauen wuschen und bügelten alle vier Wochen eine Woche lang. Eine eigene Reinigungskraft kümmerte sich um Hermines Spitzen-Sammlung, die sie bei ihrer Heirat in den 1890er Jahren angelegt hatte und dann bis in die frühen 1900er Jahre fortführte; damals genossen österreichische Spitzen international ein beinahe ebensolches Renommee wie die Wiener Werkstätte. Eine ehemalige Bedienstete half beim Großreinemachen und polierte die Parkettböden, eine Bürste unter den einen Fuß geschnallt, einen Lappen unter den anderen.
Frau Dr. Herschmann, wie Gretl nach wie vor hieß, da sie Pauls Namen und Titel beibehielt, profitierte von Hermines Reichtum, als sie in die Wohllebengasse zurückkehrte. Sie brauchte keine Miete zu bezahlen und hatte wenige andere Auslagen. Fast alles wurde für sie erledigt. Hermine nahm sogar weitere Angestellte auf, Gouvernanten, die sich bis zur Volksschulzeit um Annelore kümmerten. Gretl nutzte diese Freiheit, um Klavier zu spielen und mit einem versierten Geiger Kammermusik zu üben. Sie wurde Mitglied bei einem der führenden Wiener Chöre, der Singakademie. Wie Hermine begann sie mit Bridge, das in den zwanziger Jahren schick wurde, und spielte mindestens einmal pro Woche. Sie erweiterte ihre Fremdsprachenkenntnisse, lernte Italienisch und fuhr allein auf Ferien nach Deutschland, Frankreich und Italien.
Wie bei anderen Familienmitgliedern, die von Hermines Geld profitierten, hatten die Privilegien, die Gretl genoss, ihren Preis, den Mizzi und Anne, wenn nicht Gretl selbst, als äußerst hoch einschätzten. Moriz und Hermine mochten, als sie Klimt beauftragt hatten, Hermines Porträt zu malen, die Art und Weise geprägt haben, wie die Nachwelt sie sehen sollte, doch wie Familienmitglieder über sie redeten, die darunter litten, wie sie ihre Macht gebrauchte, das konnten sie nicht bestimmen.
Mizzis Ansicht nach wurde Käthe ein Opfer von Hermines Dominanz, nachdem Lene 1926 mit 27 Jahren gestorben war, an einer Krankheit, die die besten Wiener Ärzte nicht diagnostizieren konnten. Lenes Tod traumatisierte Käthe, da die Zwillinge einander äußerst eng verbunden gewesen waren – trotz der großen Wohnung teilten sie ein Schlafzimmer, sie sahen immer gleich aus, trugen die gleichen Kleider, ließen die Haare in derselben Fasson schneiden –, und so war das Letzte, was sie brauchen konnte, dass man ihren Bewegungsraum noch mehr einschränkte. Doch Hermine befürchtete, Lene habe sich durch Chemikalien in der Wiener Fabrik vergiftet, wo Käthe und sie (nach einer Zeit in der Milchpulverfabrik der Familie in Fulnek) gearbeitet hatten. Hermine bestand darauf, dass Käthe die Fabrik verließ und in ein weiteres Familienunternehmen, die Graetzin-Licht-Gesellschaft, eintrat, die inzwischen zu einem Gasofenvertrieb heruntergekommen war. So wurde Käthe, statt eine Laufbahn als Chemikerin einzuschlagen, Verkaufsstellenleiterin, die den Kunden bei wöchentlichen Kochvorführungen zeigte, wie man briet und buk.
Mizzi gab Hermine auch die Schuld, dass Käthe nie heiratete; allerdings war das ein umfassenderes Phänomen. Für die Wiener Mittelklasse hatten Heirat und Kinder etliches von ihrer herkömmlichen Bedeutung verloren. Bei Frauen wie Käthe, die einen Universitätsabschluss besaßen, war eine Heirat besonders unwahrscheinlich, und wenn ja, dann heirateten sie spät und bekamen oft keine Kinder. Das Dilemma, vor dem sie sich sahen, wurde sogar in zwei populären österreichischen Romanen abgehandelt: Die Heldinnen sind junge Chemikerinnen, die beschließen, Heirat und Familie der Karriere vorzuziehen, doch nur eine bekommt diesen Wunschtraum erfüllt. Mizzi ritt darauf herum, wie Hermine Käthe alle Gelegenheiten verbaute, und erinnerte daran, dass immer dann, wenn Käthe nach Lenes Tod einen Verehrer hatte, Hermine sich ins Bett legte, Aufmerksamkeit verlangte und verhinderte, dass Käthe ausging. Ihre überlebende Lieblingstochter sollte
Weitere Kostenlose Bücher