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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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einfach unter ihrem Dach bleiben.
    Ihre Macht über Gretl übte Hermine auf andere Art aus: Sie verlangte von ihr, Erledigungen in der Stadt zu machen und den Bediensteten ihre Anordnungen zu überbringen. Sie erwartete, dass Gretl anwesend war, wenn sie zum Mittagessen oder Nachmittagstee Gäste hatte, und erlaubte ihr nur, Gäste zu empfangen, wenn sie selbst dabei war. Sie kontrollierte Gretls Aussehen, bestand zum Beispiel darauf, dass sie ihr Haar lang trug, und verbot ihr, auf dem Steinway-Flügel im Salon zu spielen – sie musste das bescheidene Klavier in ihrem Zimmer benutzen –, obwohl Gretl sicherlich die bei weitem beste Musikerin der Familie war.
    Dass Hermine Käthe vorzog und die Spannungen zwischen den Schwestern andauerten, machte Gretls Rückkehr in die Wohllebengasse noch schwieriger. Bezeichnend war, wie Hermine ihre Töchter nannte: Die eine war »Käthelein«, die andere einfach »Gretl«. Zudem wies sie Gretl wiederholt zurecht und kritisierte sie, und da sich Käthe meist auf Hermines Seite schlug, hatte Gretl oft niemanden, der sie verteidigte. Eine seltene Ausnahme, die Gretl zu schätzen wusste, lieferte Annelore, die als kleines Mädchen einmal die Hierarchie im Haus umkehrte. »So spricht man nicht zu meiner Mutti«, erklärte sie.
    Noch aufschlussreicher war, welche Zimmer Hermine Gretl und Annelore zuwies. Seitdem das Haus errichtet worden war, hatten die zwei Stockwerke der Wohnung eine deutliche Trennlinie zwischen der Familie, die oben lebte, und den Bediensteten unten bedeutet. Hermine hätte diese Trennung leicht beibehalten können, wenn sie Ernis und Gretls ehemalige Zimmer im ersten Stock nun Gretl und Annelore gegeben hätte. So aber wurde Gretls früheres Zimmer nun Annelores Spielzimmer, und Gretl und Annelore mussten sich auf Anweisung Hermines im Erdgeschoß, das für die Dienerschaft gedacht war, ein Schlafzimmer teilen. Nach Gretls gescheiterter Verlobung mit Norbert Stern, der Affäre mit Erich Schiller und der Scheidung von Paul Herschmann betrachtete Hermine sie als gesellschaftliche Peinlichkeit und als moralische Versagerin, die Strafe verdiente, und obwohl Annelore nichts dafürkonnte, behandelte Hermine sie genauso.
    Das war ein deutliches Stigma. Gretl und Annelore waren wahrscheinlich in Wien die einzige Mutter und Tochter aus einer derart reichen Familie, die sich so lange ein Schlafzimmer teilten, noch dazu auf der Dienstbotenetage. Die Lage ihres Zimmers war ausschlaggebend dafür, wie sie in der Familie, durch Freunde, Bekannte und Bedienstete behandelt wurden und wie sie sich selber sahen. Gretl und Annelore waren natürlich höhergestellt als die Bediensteten, doch niedriger als Hermine und die Zwillinge. Bei allen Privilegien, die sie in der Wohllebengasse genossen, waren sie auch Parias.
    Die Treppen bildeten eine der großen Metaphern für Klassenbeziehungen und soziale Stellung in den Häusern der Reichen Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Das bezog sich nicht nur auf die Sprache mit ihrem »oben« und »unten«; da waren auch die Bediensteten, Hausmädchen, die der Köchin wie der Haushälterin zur Hand gingen und sich so ständig zwischen den Etagen bewegten. Da man dies auch von Gretl und Annelore verlangte, bediente sich Gretl dieser Metapher, um ihren Platz in der Straße des Wohllebens zu bezeichnen: Nach ihren Worten wohnten sie auf der Treppe.

III

ANNELORE

Erinnerung
    IN DEN TAGEBÜCHERN , die sie als Zehn- und Elfjährige führte, verriet Annelore wenig von sich selbst. Der erste Eintrag vom August 1932 in Altaussee war typisch nichtssagend: »Vormittag Schwimmschule besucht«, schrieb sie. »Schönwetter. Nachmittag Sommersbergersee mit Mutti und Käthe.« Kein Wunder, dass sie sich dafür entschied, sich auf ihr Gedächtnis zu verlassen, als ich sie bat, etwas über ihr Leben zu schreiben. Doch nachdem sie ein Jahr lang an ihrer Geschichte geschrieben hatte und die Tagebücher eingehend wieder las, verstörten sie sie mehr als alle anderen Familiendokumente. Der Unterschied war, dass die Papiere von Moriz, Hermine, Gretl, Käthe und Lene mehr oder minder das enthielten, was sie erwartet hatte. Mochten ihr auch manche Geschehnisse, die dort beschrieben waren, neu sein, sie kamen ihr nicht überraschend vor. Ihre Tagebücher aber waren ein Schock wegen der Kluft zwischen den Einträgen und ihren Erinnerungen – eine Kluft, die sie die Frage stellen ließ, was sie eigentlich getan hatte und wie ihre Identität zustande gekommen war.
    In

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