Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
Ferdinand Andri; als er erstmals 1899 als 28-Jähriger in der Secession ausstellte, sprach man von ihm als von »einem neuen Namen, den man nicht mehr vergessen wird«. 1901 war er bereits Mitglied im Vorstand der Künstlervereinigung und prägte durch das Plakat, das er für die zehnte Ausstellung entwarf, deren Image. Da Andri immer noch gerne Aufträge annahm, ging er sofort an ein Dreiviertelporträt von Moriz; sobald das fertiggestellt war, malte er die Kinder der Gallias.
Ferdinand Andri, Moriz Gallia. 1901.
1901 war Moriz 42 Jahre alt, bärtig, beleibt, mit schütterem Haar und großen Ohren. Wie auf etlichen Fotos erkennbar, hatte der früher hochgezwirbelte Schnurrbart, der ihn als junger Mann schick, sogar weltmännisch hatte aussehen lassen, inzwischen ziemlich seine Fasson verloren. Das ehemals schmale Gesicht war schlaff und hängebackig geworden. Seine Standardbekleidung war ein dunkler Dreiteiler mit weißem Hemd und Fliege. Während Stefan Zweig sich erinnerte, dass sein Vater, obwohl er als Textilfabrikant ein Vermögen gemacht hatte, nie eine importierte Zigarre rauchte – ein Maßhalten, das Zweig als typisch für das jüdische Wiener Bürgertum bezeichnete –, konnte Moriz sich ohne eine Havanna in den Fingern nicht entspannen. Am liebsten hatte er die rechte Hand in der Hosentasche und einen Zigarrenhalter in der erhobenen Linken. So malte ihn Andri, als archetypischen erfolgreichen Geschäftsmann, zugleich skeptisch-nachdenklich, von einer leichten Trauer, wenn nicht Selbstzweifel angerührt, und schuf so ein einnehmendes, sympathisches Abbild, wenn auch nicht unbedingt ein schmeichelhaftes.
Bei Hermines Porträt war beinahe alles anders, als Klimt – wahrscheinlich 1902 – damit begann. Wie üblich arbeitete er weitaus langsamer als Andri, zudem größer angelegt; er malte ein Ganzkörperbild Hermines. Noch bedeutsamer waren seine hohe künstlerische Ambition, seine Bildimagination und die technische Fertigkeit, ebenso die unterschiedlichen Konventionen bei der Darstellung von Männern und Frauen. Während Andri es für angemessen hielt, einen Mann so zu malen, wie er jeden Tag aussah, bemühte sich Klimt, eine Frau als besonders, sogar außerordentlich erscheinen zu lassen und trotzdem die Ähnlichkeit herauszuarbeiten. Das Resultat war mit Andri nicht zu vergleichen, und Hermines Porträt stellte das von Moriz völlig in den Schatten.
Die Kleider von Klimts Modellen waren essenziell, obwohl man auf Vermutungen angewiesen ist, warum sie gerade diese trugen. Klimts Gemälde von Emilie Flöge ist ein Beispiel. Nach einer Version war das spektakuläre blau-goldene, mit Spiralen, Kreisen und Rechtecken verzierte Gewand, das sie darauf trägt, das einzige Stück, das Klimt für eines seiner Modelle entwarf, nach einer anderen eine auf der Leinwand kreierte bildliche Erfindung Klimts. Obwohl sie als Gründerin eines der innovativsten Modesalons Wiens bekannt war, kam keiner auf die Idee, Emilie Flöge könne das Kleid selbst entworfen haben.
Wie Gretl und Kathe sich siebzig Jahre später erinnerten – wahrscheinlich stützten sie sich ebenso sehr auf Hermines Erzählungen wie auf das, was Gretl als Sechs-, Siebenjährige mitbekommen hatte –, begann Klimt zunächst damit, Hermine auszustaffieren. Er entschied nicht bloß, was sie tragen sollte, er entwarf die Kleider selbst und ließ sie im Salon Flöge anfertigen. Seine Wahl war wie üblich modern. Wie in etlichen anderen frühen Porträts malte er Hermine in verschiedenen Weißtönen im Stil des angloamerikanischen Malers James McNeill Whistler. Klimt wählte ein langes, fließendes Reformkleid, dazu ein »Ball-Entrée«, ein kurzes Cape, um die Schultern und eine Boa für den Hals sowie eine breite rosafarbene Schärpe um die Taille. Zumindest den Schmuck wählte Hermine selbst aus: eine goldene Brosche mit zwei enormen Solitärdiamanten am Oberteil, Perlenohrringe und zwei Ringe – ein diamantgefasster Smaragd und ein Saphir mit einem Goldstab.
Als Nächstes ging Klimt daran, Hermine zu zeichnen, sie rasch mit Bleistift oder Farbstift zu skizzieren, um sich über die Komposition des Gemäldes klar zu werden. Für sein erstes goldenes Bildnis der Adele Bloch-Bauer ein, zwei Jahre später fertigte er über hundert Skizzen an; normalerweise benötigte er bloß rund ein Dutzend. Bei Hermine waren es etwa vierzig. Er begann damit, sie sitzend wiederzugeben, dann noch öfter im Stehen. Er zeichnete sie mit ausgebreiteten und
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