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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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wieder für ihn arbeiten. Gretl weigerte sich und verlor ihre Stellung.
    Viele Abende und Wochenenden widmete sie einem ganz anderen Unternehmen: Sie übersetzte den ersten Teil von Wilhelm Hauffs »Märchen«, die ihr als junges Mädchen besonders gefallen hatten. Bei ihrer Ankunft in Australien hatte sie mindestens zwei verschiedene Ausgaben dabei. Hauffs Geschichten waren bereits etliche Male in England übersetzt worden; nachdem ihre Schülerinnen in Sydney und Armidale so bezaubert davon gewesen waren, machte sich Gretl nun daran, sie für Australien zu übertragen. Das Buch kam 1949 in Sydney heraus, ein elegantes Werk mit Farbtafeln und Zeichnungen einer der besten australischen Illustratorinnen, Mahdi McCrae; es verkaufte sich allerdings nicht.
    Anfang der fünfziger Jahre fand Gretl schließlich eine zufriedenstellendere und langfristige Anstellung, und zwar im Zusammenhang mit der Entscheidung der australischen Regierung, das Einwanderungsprogramm auszubauen, um die Wirtschaft anzukurbeln und die Verteidigungsanstrengungen zu stärken. Da man nicht so viele britische Einwanderer anlocken konnte, wie man wollte, wurde eine nie dagewesene Zahl von Einwanderern aus Südeuropa aufgenommen. Man legte großen Wert auf Assimilation, und so wurden verschiedene Formen von Englischunterricht für diese Männer und Frauen finanziert, darunter Fernkurse für diejenigen, die nicht regelmäßig den Unterricht besuchen konnten. Beinahe zwanzig Jahre lang war Gretl die beliebteste Lehrerin im Fernunterricht in New South Wales.

Gretl in Sydney. Weihnachten 1949.
    Die finanzielle Lage der Schwestern besserte sich, nachdem sie 1950 das Haus in der Wohllebengasse restituiert bekommen hatten. Das war möglich, weil das Haus nach der Arisierung direkt in den Staatsbesitz übergegangen war und niemand aus der Familie dem in irgendeiner Form zugestimmt oder eine Entschädigung dafür erhalten hatte. Es war zwar relativ wenig wert, da Wien immer noch eine geteilte Stadt war und die Wohllebengasse in der sowjetischen Zone lag, doch der Erlös aus dem unmittelbar danach erfolgten Verkauf fettete das Kapital der Geschwister doch auf. Die Villa Gallia bekamen sie nicht zurück, da sie nach der Arisierung sofort von einem privaten Käufer erworben worden war und die Zweite Republik diesen Verkauf als bindend betrachtete, obwohl er durch Mizzi unter Zwang und für eine lächerliche Summe erfolgt war. Stattdessen erhielten Gretl, Kathe und Erni eine symbolische Entschädigung.
    Was immer gleich blieb, war die Beziehung zwischen Gretl und Kathe. Als die Schwestern in Sydney wieder in eine gemeinsame Wohnung zogen, weil ihre Lage so unsicher war, konnten sie sich auf beinahe gar nichts einigen. Was sich die eine zu eigen machte, verspottete unweigerlich die andere, wer sich mit Gretl anfreundete, wurde von Kathe abgelehnt und umgekehrt. Die einzige Ausnahme war Anne, die sie beide laut Gretl zu sehr liebten. Weit entfernt davon, ihre eigene Beziehung zu Anne an die erste Stelle zu setzen, beschrieb Gretl wiederholt Kathe, als würden sie beide dieselbe Position einnehmen. »Wir vernarrten Mütter«, so lautete eine ihrer Formulierungen für sie beide. Doch das hielt Gretl und Kathe nicht davon ab, um Annes Zuneigung erbitterter denn je zu kämpfen.
    Die Beziehung zwischen Gretl und Anne wurde zunehmend gespannt, und so hatte Gretl das Gefühl, Anne habe ihr ihre unendliche Liebe und Hingabe niemals entsprechend vergolten. Sie war verletzt davon, dass ihre Tochter, die durch ihre exzellenten Leistungen an der Universität glänzte, sich ihr ganz wie Kathe überlegen fühlte. In einem Brief an Anne zu ihrem 21. Geburtstag 1943 bat Gretl sie, Geduld zu haben und sie trotz ihrer Fehler und Schwächen zu lieben. Die Beziehung zwischen Kathe und Anne war besser, obwohl auch sie oft unzufrieden war und Anne tadelte, unfreundlich zu sein. In einem Gedicht zum 21. Geburtstag Annes verglich Kathe sie zu ihrem Nachteil mit Hermine und drückte ihr Bedauern aus, keine Spur von deren Charakter in Anne zu entdecken, obwohl sie immer noch hoffte, das würde mit den Jahren noch kommen.
    Von ihrer neuen katholischen Identität war Anne nach wie vor begeistert. Außerordentlich fromm, wie sie war, besuchte sie jeden Sonntag die Frühmesse, oft auch die am Samstagabend, hielt die Predigten ausführlich in ihrem Tagebuch fest und ging regelmäßig zur Beichte. Ihr Gefühl christlicher Pflichterfüllung wurde allerdings auf die Probe gestellt, als eines ihrer

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