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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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Wiener Patenkinder, die Pater Elzear in der Franziskanerkirche getauft hatte, sie anrief. In ihrem Tagebuch hatte Anne zugegeben, stolz zu sein, dass sie als Sechzehnjährige Patin der 49-jährigen Stella Groak war. »Das war genau das, was ich wollte«, wurde Anne klar. In Sydney aber wollte Anne nichts mit Mrs. Groak zu tun haben, wusste diese doch, dass Anne keine geborene Katholikin, sondern ebenfalls erst vor kurzem konvertiert war. Ihr erstes Treffen wurde noch schwieriger für Anne, als Mrs. Groak sie fragte, ob sie »ganz und gar katholisch« sei, was annehmen ließ, dass Mrs. Groak das nicht war. Anne verschwieg ihre Überzeugung, dass das Heil in der Kirche lag, und tadelte sich selbst, nicht zur Antwort gegeben zu haben: »Was sollten wir denn sein? Sollten wir dauernd die Religion wechseln?«
    Die wichtigste katholische Organisation für junge Frauen in Sydney war »Der Gral«, eine 1929 in den Niederlanden gegründete Gruppe, die sich selbst als eine »Jugendbewegung für Gott mit dem großen Ziel, die Welt für Christus zu gewinnen«, bezeichnete. Anne fühlte sich teilweise wegen des Einflusses der holländischen Gründer zum »Gral« hingezogen, sie fand ihn »sehr europäisch«, andererseits wurde durch ihn ihre Assimilation erleichtert. In einer Geschichte über ihre Ankunft in Sydney beschrieb sie, wie sehr sie sich vor der immer wiederkehrenden Frage gefürchtet hatte: »Und wie gefällt es Ihnen in Australien?« Sie habe sich immer verpflichtet gefühlt, gab sie zu, eine positive Antwort zu geben und nicht zu verraten, wie fremd sie sich vorkam. Nach ihrem Beitritt zum »Gral« verlor diese Frage viel von ihrem Stachel; sie wurde eines der begeistertsten Mitglieder. Sie fühlte sich nicht mehr als »Fremde in einem fremden Land«, da sie etwas hatte, »für das sie arbeiten, von dem sie träumen, das sie lieben konnte«.

Der »Gral« (mit Anne) bei einer Aufführung in Sydney. 1941.
    Wie viele Flüchtlinge fragte sich Anne später, wie sie den »Anschluss« aufgenommen hätte, wäre sie nach der Nazi-Definition »arisch« gewesen. Weit davon entfernt zu überlegen, ob sie den Mut aufgebracht hätte, gegen Hitler Widerstand zu leisten, nahm sie an, sie hätte das neue Regime wie die meisten Österreicher akzeptiert, und fragte sich, wie enthusiastisch sie es begrüßt hätte. Wäre sie dem Bund Deutscher Mädchen beigetreten? Hätte sie Juden verfolgt? Sie konnte diese Fragen nicht beantworten, wusste aber, dass eine zusätzliche Anziehungskraft des »Grals« für sie in seinen triumphalen, militaristischen Anteilen bestand, den Massenaufmärschen, den Fahnen und Uniformen. Sie erkannte, dass der »Gral« ihr erlaubte, das zu tun, was ihr in Wien unmöglich gewesen war, wo sie »eine Ausgestoßene« gewesen war, die »nicht wie alle anderen das Hakenkreuz tragen« durfte.
    Bei den meisten jungen Frauen dauerte es ein Jahr oder mehr, bis sie als Laienapostel des »Grals« aufgenommen wurden; Anne war in Ekstase, als sie es in weniger als fünf Monaten schaffte. Ohne zu wissen, wie Gretl dreißig Jahre zuvor ihre eigene Erstkommunion und Firmung beschrieben hatte und wie Wendungen und Reaktionen über Generationen hinweg weitervermittelt werden, bezeichnete Anne ihre Initiation als den schönsten Tag ihres Lebens. Bald war ihr Engagement so intensiv, dass Gretl fürchtete, sie würde einem Orden beitreten; damit hätte sie ihre einzige Tochter »verloren«. Da sie seit ihrer Ankunft in Australien behauptet hatte, ganz und gar Katholikin zu sein, entschied sich Anne nun, dieser Täuschung ein Ende zu setzen; trotz Gretls Opposition wurde sie in der Marienkathedrale gefirmt. Ihre engste Freundin an der Universität bemerkte, sie habe noch nie einen so »vollkommenen und bedingungslosen Glauben« gesehen wie bei Anne.
    Er war nicht von Dauer. Im Mai 1942 wurde ihre Unzufriedenheit mit der Kirche offensichtlich, als sie zu Christi Himmelfahrt in die Kirche ging und bemerkte, dass der Priester die Predigt vom vergangenen Wochenende wiederholte. Als er am Sonntag darauf mahnte: »Wir wissen alle, dass wir Gott lieben müssen, denn das haben wir aus dem Katechismus gelernt«, fühlte sie sich zu dem Ausruf bewogen: »Heiliger Aristoteles, was für eine Logik.« Am vierten Jahrestag der Taufe durch Pater Elzear in Wien grübelte sie darüber nach, wie ruhelos sie in der Kirche war, während sie immer noch nach der Wahrheit suchte. Als sie das jährliche Festspiel des »Grals« besuchte, in dem sie im Jahr

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