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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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Schulen unterrichten zu dürfen. Doch bald hatte sie Angst vor der Aussicht, Jahre am Land verbringen zu müssen, wie es das Los vieler junger Lehrer war. Und die Ausbildung langweilte sie so sehr, dass sie sich, wie bei der Schwesternlehre, einfach nicht darauf konzentrieren konnte. Stattdessen schrieb sie in den Unterrichtsstunden Briefe, las Bücher und strickte, wenn sie nicht überhaupt schwänzte, und es war keine Überraschung für sie, dass sie beim Examen durchfiel.
    1942 begann Kathe in der Medizinischen Forschungsabteilung des North Shore Krankenhauses in Sydney als Chemielaborantin und Biochemieassistentin zu arbeiten; deswegen zogen Gretl, Anne und sie von Rose Bay in die Wohnung in Cremorne. Die Anstellung im Krankenhaus war ein wesentlicher Fortschritt gegenüber dem Job in der Bleistift- und Kohlepapierfabrik, doch Kathe war immer noch erheblich überqualifiziert für die neue Stelle. Sie hatte sechs Jahre für ihren Abschluss studiert, die anderen Biochemikerinnen hatten nach nur drei Jahren Teilzeitstudium an einer Fachschule ihre Diplome erhalten. Sogar die wissenschaftlichen Mitarbeiter hatten bloß einen Bachelor-Titel, den man nach dreijährigen Studien an australischen Universitäten erhielt. Auf den Mitarbeiterlisten wurde Kathes Doktortitel zwar erwähnt, sonst aber ignorierten ihn ihre Vorgesetzten. Das Ergebnis war eine tiefe Spaltung zwischen ihrer beruflichen und persönlichen Identität: In der Arbeit war sie »Miss Gallia«, sonst, wie in Wien, »Dr. Gallia«.
    Gretls Job als Teilzeit-Sprachlehrerin in St. Vincent trug ihr weitere ähnliche Anstellungen ein. Ab 1940 arbeitete sie in katholischen und anglikanischen Schulen und überbrückte auf diese Weise einen in Australien existierenden tiefen religiösen Graben. Als jedoch eine der anglikanischen Schulen, an denen sie angestellt war, 1942 schloss, fand sie keine Lehrerinnenstelle mehr, und so wurde sie Sekretärin, zunächst bei der Delegation der Streitkräfte des Freien Frankreich, wo sie sich darauf freute, ihr Französisch einsetzen zu können. Die nächste Anstellung, hier half ihr ihr Deutsch, kam durch Saul Symonds in der Jewish Welfare Society zustande und unterstrich wieder einmal ihren außerordentlichen interreligiösen Status in Sydney.
    Ihre befriedigendste Arbeit fand Gretl Anfang 1944: Sie erhielt eine Stelle an der angesehensten Knabenschule in Sydney, Shore, die bis zum Krieg eine männliche Bastion gewesen war. Als etliche der Schullehrer einrückten, war man gezwungen, drei Frauen zu engagieren, darunter Gretl. Da Deutsch die Sprache des Feindes war, wollte es keiner der Jungen lernen, also unterrichtete sie nur Französisch. Zwei Jahre lang war Gretl sehr glücklich, sie fand unter den Schülern einige Freunde fürs Leben, und es gefiel ihr sehr, Vollzeit zu arbeiten. Nach Kriegsende allerdings war sie unter den vielen Frauen, die ihre Arbeit aufgeben mussten, um den Ex-Soldaten Platz zu machen.
    Sonst gab es für sie keine Möglichkeiten, außer auf dem Land. Anne war dem entkommen, weil sie bei der Pädagogikprüfung durchgefallen war, Gretl hingegen ging. So wie sie damals bei der Abreise aus Wien nach Sydney 1938 das Gefühl gehabt hatte, sie gehe ans Ende der Welt, so fühlte sie sich jetzt Anfang 1946, als sie mit einem Bummelzug zur New England Girl’s School aufbrach, 450 Kilometer von Sydney außerhalb von Armidale, 7000 Einwohner, inmitten von Schafweiden gelegen. Ende des Jahres wollte Gretl wieder weg, die Schule kam ihr snobistisch und mittelmäßig vor, der Ort Armidale öde und langweilig. Da sie in Sydney keine Stelle als Lehrerin finden konnte, kehrte sie 1947 zurück, kündigte aber 1948 noch vor Ende des Schuljahres. Obwohl sie wusste, dass sie in Sydney bloß als Sekretärin eine Stelle finden konnte, war ihr das lieber als der »Albtraum« von Armidale.
    Ihre Strategie sah so aus, dass sie eher selber Anzeigen aufgab, als auf welche zu antworten: »Dame mit guten Englisch-, Französisch- und Deutschkenntnissen, Stenographie und Maschineschreiben, sucht Vertrauensstellung. Beste Referenzen«, so beschrieb sie sich selbst. Die Arbeit, die die ehemalige Sprachlehrerin fand, war die bis dahin ärgste: Sie arbeitete in einem Möbelgeschäft in der Stadt für einen anderen Flüchtling, der auf Ausbeutung aus war. Am Heiligen Abend entließ er alle seine Angestellten, um ihnen kein Urlaubsgeld und an den ruhigen Tagen Ende Dezember keinen Lohn bezahlen zu müssen, im neuen Jahr sollten sie dann

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