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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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zuvor voller Begeisterung mitgespielt hatte, tat sie es als »Propaganda« ab.
    Bald las sie Aldous Huxleys »Schöne neue Welt«, das die Kirche in Australien gerne verboten hätte, und Nietzsche über den Übermenschen und den Tod Gottes. Und sie begann wieder zu tanzen. Wie sie es damals beschrieb, hatte sie nach der Flucht aus Wien damit aufgehört, da sie es als »ein bisschen frivol und zu fröhlich« betrachtete; schließlich sei sie aber zur der Ansicht gekommen, »dass man nur einmal jung ist und es nichts schadet, sich ein bisschen zu amüsieren«. Bald ging die zwanzigjährige Anne beinahe jeden Samstagabend aus, kaufte neue Kleider und besuchte sogar das Trocadero, einen Nachtclub für australische und amerikanische Soldaten, wo ein Live-Orchester aufspielte.
    Der 8. November 1942, ein Sonntag, war ein Wendepunkt. Sie ging zwar wie üblich mit Kathe in die Messe, es fiel ihr aber auf, dass ihre Rollen vertauscht waren: Nicht Anne hatte Kathe gedrängt, sie zu begleiten, Kathe hatte Anne bestürmt zu gehen. Eine Stelle aus Felix Dahns »Julian der Abtrünnige« fasste zusammen, was sie fühlte: »Götterglauben ist kindlich. Gott leugnen ist Wahnsinn. Gott suchen ist alles.« Nach vier Jahren, in denen sie inbrünstig geglaubt hatte, sah sich Anne nun an die Stelle zurückversetzt, von der sie ausgegangen war. »Endlich verstehe ich wieder«, bemerkte sie, »was ich als Kind schon verstanden hatte.«
    Noch entscheidender sollte der 15. November 1942 werden, ein Sonntag. Sie ging nicht in die Messe. Und auch später ging sie nicht mehr; sie begleitete zwar Kathe am Weihnachtstag in die Kirche, folgte aber nicht ihrer Gewohnheit, die Predigt ausführlich wiederzugeben. Stattdessen übertrug sie zwei Stellen aus »This Believing World«, einer Studie vergleichender Religionswissenschaft des ehemaligen amerikanischen Rabbiners Lewis Browne, die sie aus der Bibliothek entliehen hatte. In der ersten Stelle hieß es: »Theologie ist häufig nicht mehr als ein Versuch, das Leben todgeweihter Ideen zu verlängern, indem Worte interpretiert werden, die nicht mehr das bedeuten, was sie sagen – und wenn Theologie solches ist, dann ist sie unweigerlich eine Offenbarung von geheimem Misstrauen und Skeptizismus.« Die nächste Stelle begann: »Nur die großen Seelen, die Weisen und Propheten konnten je in einer von jedem zeremoniellen Schmuck befreiten Religion Erlösung finden. Die gewöhnlichen Menschen sind selbst heute unfähig, abstrakte Ideen zu verstehen.«
    Ihre Distanz zum Judentum war gleich geblieben. Wenn es bizarr scheint, dass ich mit 22 noch nie den Ausdruck »Schickse« gehört hatte, dann verrät das Exemplar von »This Believing World«, das Anne 1943 mit 22 gekauft und wiedergelesen hatte, dass ich genau so war wie sie. Nach vier Jahren in Australien war Annes Englisch so fließend, dass sie auf den ersten 250 Seiten keine einzige Anmerkung zur Bedeutung eines Wortes machte, ein deutlicher Unterschied zu der Anthologie mit britischen Essays, die sie für die Abschlussprüfung gelesen hatte. Auf Seite 251 stieß sie dann auf die Passage: »Der Jude klammert sich vor allem deshalb an sein Ritual, weil er unterbewusst spürt, dass er sonst seine Identität unter den Nichtjuden verlieren würde. Mit anderen Worten, er ist vor allem gottesfürchtig, weil er goifürchtig ist.« Anne, die den Großteil ihres Lebens offiziell als Jüdin gegolten und zehn Jahre den jüdischen Religionsunterricht besucht hatte, kannte die Bedeutung des Wortes Goi nicht. An den Rand schrieb sie »Heide«.

Briefe
    WIRD ÜBER DEN Völkermord an den europäischen Juden geschrieben, dann oft so, als hätten diejenigen, die entkamen, nicht gewusst, was während des Krieges geschah. Dem war nicht so. Es gab zwar ab Mitte 1940 keine direkte Postverbindung mehr zwischen den von den Nazis besetzten europäischen Ländern und denen, die gegen die Nazis kämpften, doch gelegentlich Post in neutrale Länder, die trotz der deutschen Zensur einige Nachrichten lieferten, und diese Nachrichten erreichten schließlich Freunde und Verwandte im Ausland. Die Briefe, die Anne in Sydney erhielt, geben ein Bild davon, was man über den Massenmord an den Juden wusste, was Ende 1942 in der ganzen Welt bekannt wurde, und was mit einzelnen Personen geschehen war. Sie zeigen auch die unterschiedlichen Arten, wie Flüchtlinge mit dem lebten, was sie wussten und was sie nicht wussten.
    Der erste dieser Briefe kam von Georg Schidlof, der 1943 unter seinem

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