Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
schön«, schrieb Erika aus England, »wenn wir beide in einem Krankenhaus arbeiten würden«, dann könnten sie wieder zusammen sein, wenn der Krieg vorüber war. Noch näher lag, dass Anne, weil die Lehrschwestern im Krankenhaus wohnen mussten, ihr Zuhause verlassen würde, und das wollte sie unbedingt: Gretl und Kathe verstanden sich immer noch nicht, und Anne stritt oft mit einer oder beiden. Eine Krankenschwester, die Anne in Sydney kennengelernt hatte, warnte sie, die Arbeit der Lehrschwestern sei stumpfsinnig und eintönig, Anne bewarb sich aber trotzdem. Nachdem sie einen Einführungskurs in Krankendiät absolviert hatte, in dem sie lernte, Cornish Pasties, Irish Stew, braune Gemüsesauce und Eiercreme zuzubereiten, begann sie mit der Ausbildung.
In der allgemeinen Krankenpflege schnitt sie am schlechtesten ab: Sie war Zweitletzte der Klasse mit einer Leistung von 54 Prozent. Nach all den Schwierigkeiten bei ihrem Schulabschlussexamen konnte sie Prüfungsfragen wie die folgende nicht ernst nehmen: »Sie gehen auf die Station und machen die Betten; wie breit muss der Teil des Leintuchs sein, den Sie unter die Matratze stecken?« Aber sie wollte nach wie vor unbedingt Krankenschwester werden – bis sie auf der Station zu arbeiten begann. Sie hatte sich nach Herausforderung und Verantwortung gesehnt, und nun machte sie Betten, wechselte Verbände, leerte Bettpfannen und spülte Geschirr. Mit den Vorgesetzten stritt sie sich häufig, besonders mit der stellvertretenden Oberschwester, die immer wieder von »dreckigen Ausländern« sprach. Es war Annes erste nachhaltige Erfahrung von Rassismus in Australien. Sie hatte zwar gute Absichten, arbeitete aber ihrer eigenen Beschreibung nach immer schlechter und wurde nach sechs Monaten entlassen.
Ihre Begabungen hatten John Ferguson, den Richter am Handelsgericht von New South Wales und Freund Gretls, jedoch beeindruckt. Als Anne sich entschloss, an der Universität in Sydney zu studieren, waren die Studiengebühren ein Thema. Ferguson bot an, sie zu begleichen. Gretl und Kathe nahmen zwar das Angebot nicht an – zusammen verdienten sie jetzt so viel, dass sie ihre Ausgaben decken konnten –, aber Anne vergaß Fergusons Großzügigkeit nie. Bei anderen Leuten war er berühmt, weil er seine große Büchersammlung der National Library vermacht hatte, in unserer Familie aber wegen einer ganz anderen Art Philanthropie.
An der Universität war Anne am richtigen Ort. Sie studierte nicht nur ebenso fleißig wie für die Abschlussprüfung, sondern mit einer Freude und Begeisterung wie nie zuvor. Mit zunehmender Wissbegier, Selbstsicherheit und wachsendem Ehrgeiz ging sie weit über ihr eigentliches Studiengebiet hinaus, las ungeheuer viel und hörte sich Vorlesungen in anderen Fächern an, um noch mehr zu lernen. Und sie schloss Freundschaften, wie sie es vorher nicht getan hatte. Als ein Mädchen im Vorlesungssaal neben ihr sitzen wollte, ein anderes ihr ein Buch lieh und ein drittes sie einlud, ein paar Urlaubstage mit ihrer Familie auf dem Land zu verbringen, war sie »überrascht, so beliebt zu sein«; Freundschaft war für sie immer noch keine normale Erfahrung. 1943 schrieb sie: »Das Leben auf der Universität finde ich einfach wunderbar.«
Ihr letztes Studienjahr, 1944, brachte einen weiteren Triumph. In den ersten drei Jahren hatte sie in Geschichte und Deutsch hervorragende Leistungen geliefert; nun peilte sie ein Prädikatsexamen an, was bedeutete, dass sie zwei Abschlussarbeiten verfassen musste. In Geschichte schnitt sie mit Gut ab, in Deutsch hingegen mit Sehr gut und einer Medaille; das Ergebnis, das betonte ihr Betreuer, hatte wenig damit zu tun, dass sie als Native Speaker einen Vorteil hatte. Ihre »hervorragende Leistung«, so schrieb er, sei ihre Abschlussarbeit, die eine »für eine Studentin im ersten Studienabschnitt ungewöhnliche Beherrschung der literarischen Methode und Stärke der Analyse« verriete. In ihrem Tagebuch sah eine freudig erregte Anne ihr Ergebnis als Beweis, dass sie »beinahe eine echte Intellektuelle« war.
Kathe und Anne beim Weihnachtseinkauf in Sydney. 1945.
Die offenkundigste Berufswahl in Australien war Lehrerin oder Bibliothekarin, die zwei Standard-Wahlmöglichkeiten für junge Frauen mit geisteswissenschaftlichen Abschlüssen, egal welche Noten sie an der Universität gehabt haben mochten. Anfang 1945 begann Anne eine Ausbildung an der Pädagogischen Akademie in Sydney; es war die Voraussetzung dafür, in öffentlichen
Weitere Kostenlose Bücher