Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
neuen Namen George Turner wieder mit Anne Kontakt aufnahm. Georges Schwester Hanna war nach Palästina entkommen, seinen Eltern Ernst und Lizzi war es nicht gelungen. Eine von Georges Tanten war bis Ende 1940, wenn nicht 1941 über das neutrale Schweden mit ihnen in Kontakt geblieben, als Ernst und Lizzi noch in Wien waren. Seitdem hatte George erfahren, dass Ernst und Lizzi »nach Polen verschleppt« worden waren. Das war alles. Trotz wiederholter Versuche konnte er keinen Kontakt mehr mit ihnen aufnehmen und auch nicht herausfinden, wohin die Nazis sie transportiert hatten: Es war Riga in der Sowjetunion.
George nahm zu Recht an, dass die Nazis Ernst und Lizzi umgebracht hatten. Er schrieb: »Natürlich weiß ich, dass sie ihr Schicksal mit Millionen teilen, doch dieses Wissen hilft nicht.« Sein einziger Trost war, dass er, unter der Bedingung, einzurücken, von der Internierung in Australien befreit worden war – er hatte sich für die englische Armee statt der australischen entschieden, da er gegen die Deutschen, nicht gegen die Japaner kämpfen wollte –, und nun »mit allen Kräften für die Auslöschung des Nazismus« arbeite; bald werde er »auf einem Panzer in Österreich oder Deutschland einfahren«. Er erklärte, »nicht zufrieden zu sein, bis die Leute, die für diesen Massenmord verantwortlich sind, die gerechte Strafe für ihre Verbrechen erhalten haben«. Und er schloss: »Es war seltsam, als ich die Nachricht vom Schicksal meiner Eltern erhielt, fühlte ich nicht den Kummer, den man erwarten könnte, aber einen unbändigen Hass, den Wunsch, diese unmenschlichen Scheusale eigenhändig umzubringen.«
Ein weiterer Brief kam Anfang 1945, diesmal von Annes tschechischem Cousin Hans Troller, der sie bei einem Besuch in Altaussee ein Jahrzehnt zuvor dazu angeregt hatte, Cello zu lernen. Hans schrieb, dass er 1939 aus Prag nach England emigriert war; am Bahnhof hatte ihm seine Mutter Lebewohl gesagt und ihm den strikten Auftrag erteilt, zu lächeln oder zumindest beim Abschied nicht zu weinen. Seine Großmutter Fanny, die letzte überlebende Schwester von Annes Großvater Moriz, war 1942 gestorben, bald danach Hans’ Vater Ernst. Von seiner Mutter hatte Hans seit 1944 nichts mehr gehört, von seinen beiden Brüdern schon seit längerem nicht. Er bemerkte: »Ich fürchte, das ist nicht eben heiter, doch ich habe aufgehört, mir Sorgen zu machen, da ich ihnen durch all meine Sorgen unter den gegenwärtigen Umständen nicht helfen kann, und ich bin wirklich der Meinung, die britische Einstellung – mach dir nichts draus, zeig keine Gefühle – ist sehr vernünftig und macht das Leben viel leichter.«
Nachdem der Krieg in Europa 1945 zu Ende gegangen war, fand Anne noch weit mehr heraus. Bald erhielten Gretl, Kathe und sie Brief um Brief über das Schicksal von Verwandten und Freunden. Jedes Mal, wenn ein Brief aus Europa eintraf, fragten sie sich, welche Nachrichten er bringen werde. Ihre Freude, wenn sie Post bekamen – die aus Annes Tagebuch im Krieg deutlich hervorgeht –, war nun mit Furcht gemischt. Doch besonders bei schlimmen Neuigkeiten vermittelten die Briefe nur einen Bruchteil von dem, was sich zugetragen hatte, da die Briefschreiber entweder nicht imstande waren, das Geschehene im Detail zu schildern, oder anderen das Furchtbare ersparen wollten.
Etliche dieser Briefe kamen von den Hamburgers. Wunderbarerweise begannen sie mit einer Nachricht von Guido junior, der berichtete, dass er seinen Bruder Friedrich, die Schwägerin Helene und die Nichte Jana alle am Leben gefunden habe. Der nächste kam von Gudrun, die schrieb, dass ihr Vater Otto tot war, während ihr Onkel und ihre Tante, Guido senior und Nelly, verschollen seien. Dann kam wieder einer von Guido junior, der sie informierte, dass Pauls und Felys Tochter Lizzi den Krieg in Wien überstanden hatte, nur um einen Monat, nachdem die Stadt an die Sowjets gefallen war, an Tuberkulose zu sterben. Ich nehme an, dass nicht lange danach ein weiterer Brief von Fely eintraf, dass Paul ebenfalls gestorben war.
Annes Freundin Erika, die 1945 in England einen ebenfalls geflüchteten Mann heiratete, gab eine Vorstellung davon, wie es war, fünf Monate, nachdem der Krieg in Europa geendet hatte, nach Verwandten zu suchen, ohne etwas über ihr Schicksal ausfindig machen zu können. »Otto hat seine Eltern, zwei Brüder und zwei Schwestern in Deutschland zurückgelassen und hat bis jetzt nichts über sie in Erfahrung bringen können«, berichtete
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