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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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zu sagen. Eric, so notierte Anne in ihrem Tagebuch, war »unwillig und böse«.
    Das war auch fast schon wieder das Ende meines Katholizismus. Nur Gretl baute darauf auf, als sie mir das Vaterunser auf Deutsch beibrachte, bevor ich es noch auf Englisch sagen konnte. Bruce und ich gingen nie in die Sonntagsschule oder in die Kirche. Für Anne gehörte unsere Taufe zu einem pragmatischen Umgang mit der Religion, und so gab es für uns nach einer katholischen Taufe eine anglikanische und dann methodistische Schulbildung, während sie uns als Atheisten erzog. Als Bruce in der anglikanischen Schule, die wir Mitte der sechziger Jahre in Melbourne besuchten, von einem Schulkameraden, der von seiner katholischen Taufe erfahren hatte, gehänselt wurde, sagte ihm Anne, er solle nicht über seine Religion reden. Wenn man ihn danach frage, meinte sie, solle er sagen, er sei Mitglied der Kirche von England.

Rückkehr
    EINER DER HÖHEPUNKTE im Programm der BBC zu Weihnachten 1954 war ein Radiofeature über »Gute Nachbarn«, das unmittelbar vor der Ansprache der Königin an die Mitglieder des Commonwealth ausgestrahlt wurde. Wie es in
Radio Times
, der Zeitschrift der BBC, hieß, erzählte »Gute Nachbarn« die Geschichten von Männern und Frauen aus allen Ländern, einige berühmt, andere nicht, die »für andere lebten und arbeiteten«. Einer war Leonard Cheshire, der berühmteste britische Bomberpilot des Zweiten Weltkriegs, der ein Friedensheld wurde, weil er die Cheshire Homes für kranke, alte, arme und hilflose Menschen gegründet hatte, eine andere die Kanadierin Marilyn Bell, die als Erste den Lake Ontario durchschwommen hatte, dadurch »zu Ruhm und Reichtum geschwommen« war und dann diese Leistung dazu nutzte, Spenden für eine Klinik für behinderte Kinder in Toronto zu sammeln. Die Krankenschwester Joseph verkörperte beispielhaft »den neuen Geist, der die Söhne und Töchter aus Indiens privilegierten Klassen dazu bewegt, die primitiven Umstände in den Dörfern zu teilen, in denen neun Zehntel der 400 Millionen Inder und Inderinnen wohnen«. Und Gretl trat als »neue Australierin« auf, die noch neueren Australiern half, indem sie ihnen Englisch beibrachte, wodurch sie »das Geschenk einer neuen Heimat in einem neuen Land mit einer sehr praktischen Form guter Nachbarschaft« vergalt.
    Dieser Radioauftritt, der eine Minute und 55 Sekunden dauerte – minimal länger als jener der Kanadierin Marilyn Bell und der indischen Krankenschwester Joseph –, war Gretls engste Berührung mit dem Ruhm, die sie in Australien erlebte. Er gab ihr Gelegenheit, ihre neue Heimat zu vertreten und auf dem ganzen Kontinent gehört zu werden. Und sie erreichte Verwandte und Freunde, die in andere Gebiete des Commonwealth geflohen waren und mit denen sie seit mindestens sechzehn Jahren nicht mehr gesprochen hatte. Es war ein Grund für familiären Stolz, dass Gretl, wie Anne es formulierte, »in der Weihnachtssendung mit der Königin« war.
    Als ich dieses Buch zu schreiben begann, nahm ich an, der australische Rundfunk werde eine Kopie besitzen, da das Programm mehrmals ausgestrahlt worden war. Dann fand ich heraus, dass dem nicht so war, und wollte anderswo suchen, tat aber nichts, worauf Bruce die Initiative ergriff. Er versuchte es beim Büro des British Council in Sydney, nachdem man ihm geraten hatte, es könne bei Anfragen im Buckingham Palace behilflich sein. Er versuchte es bei der BBC in London, die hatte schließlich das Programm gestaltet. Er versuchte es beim Leonard Cheshire Disability Centre in Netherseal, da Cheshire in dem Programm zur Sprache gekommen war. Er versuchte es bei der Canadian Broadcasting Commission in Toronto und hatte endlich Glück, obwohl er immer noch die Genehmigung der BBC einholen musste, bevor der kanadische Rundfunk die einzige noch existierende Aufzeichnung der Stimme unserer Großmutter herausrückte.
    Die Aufnahme traf ein, als ich gerade das Buch beendete. Wenn es etwas ganz Besonderes gewesen war, die Wachszylinder von Moriz und Adolf Gallia zu entdecken, deren Stimmen ich nie gehört und nie zu hören gehofft hatte, dann war es mindestens ebenso bewegend, Gretls Stimme über dreißig Jahre nach ihrem Tod zu vernehmen, zu einer Zeit, da ich sie nie mehr zu hören glaubte. Zwei von Annes alten Freunden dachten, sie klinge genau so, wie sie sie in Erinnerung hatten, doch Bruce und mich überraschte ihre Stimme. Wir wussten, dass Gretl einen Akzent gehabt hatte, waren aber konsterniert, wie

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