Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
stark er war, und verblüfft, als sie am Ende ihres Auftritts ein Tiroler Lied sang. Ihre 58-jährige Stimme war immer noch schön und bekräftigte, warum Carl Lafite die 19-jährige Gretl der Ausbildung wert befunden hatte.
Beinahe alles, was sie sagte, hatte mit ihrer eigenen Situation zu tun, als Frau, die aus einem wohlhabenden Hintergrund gekommen und gezwungen gewesen war, sich an den Verlust von Privilegien zu gewöhnen, die aber auch das Glück hatte, am Sydney Harbour zu leben und das Interesse an der Hochkultur bewahrt zu haben. »Wir Neuaustralier haben hier viel gelernt«, erklärte sie. »Wie man weniger Umstände macht. Wie man einen Haushalt führt und ohne Dienstboten zurechtkommt. Wie man den Sonnenschein genießt und jedes Wochenende schwimmen geht. Im Gegenzug schenken wir Australien viele unserer eigenen Vorstellungen – über Essen und Möbel und Architekturdesign. Musik, Theater und Ballett sind für uns das Wichtigste.«
Sie meinte auch, sie habe es »nie bereut, hierhergekommen zu sein«, obwohl sie sich in Australien nie wirklich zuhause oder angenommen gefühlt habe. Wenn Fremde auf ihren Akzent mit der meist aus reiner Neugier gestellten Frage reagierten: »Woher kommen Sie?«, pflegte sie zu antworten: »Und woher kommen Sie?«, beleidigt und verärgert, dass eine Gesellschaft, die von Sträflingen abstammte, nicht sensibler auf die Herkunft anderer Menschen reagierte. Obwohl sie in Sydney viele Freunde hatte, schrieb Gretl 1960 an Anne: »Weißt Du, ich fühle mich nicht wohl unter Australiern. Ich mag sie ebenso wenig wie sie mich.« Eine Stelle, die sie einige Wochen später in ihrem Zitateheft festhielt, lautete ganz ähnlich: »Australien ist ein leeres Land. Hier gibt es kein Willkommen, nur Toleranz.«
Wiener Lieder – nicht so sehr Lieder über Wien als Liebeslieder an die Stadt – drückten ihr Heimweh aus. Eines ihrer liebsten war »Mei Muatterl war a Weanerin«. Es beschreibt, wie eine Mutter ihre kleine Tochter auf einen Ausflug auf den Kahlenberg mitnimmt, wo sie beide auf die Stadt hinunterschauen und die Mutter der Tochter das Versprechen abnimmt, der Stadt treu zu bleiben. Wenn Gretl in Australien dieses Lied spielte, traten ihr Tränen in die Augen. Anne erinnerte sich: »Es war, als hätte man ihr aufgetragen, Wien für den Rest ihres Lebens treu zu bleiben, trotz allem, was die Stadt und ihre Menschen ihr angetan hatten.« Ein anderes Lieblingslied Gretls war »Wien, du Stadt meiner Träume«. Eine solche Traumstadt blieb Wien für sie ihre ganze Zeit in Australien hindurch. Sie nannte es mein »liebes, liebstes Wien«.
Die Bilder an ihren Wänden mögen zu ihrer Nostalgie noch beigetragen haben. Es waren Wiener Szenerien, darunter der Innenraum der Peterskirche, das Beethovenhaus in Heiligenstadt und der Schönbrunner Schlosspark. Doch da sie alle von Carl Moll stammten, erinnerten sie auch daran, wie er, den Gallias so lange Zeit eng verbunden, Gretl, Käthe und Annelore nach dem »Anschluss« brüskiert hatte. Ich frage mich, ob Gretl das, was die Bilder darstellten, von dem, der sie geschaffen hatte, zu trennen vermochte, vor allem wenn man ihren ausgeprägten Sinn für Treue berücksichtigt. Was bedeutete es für sie, Wien jeden Tag durch Molls Pinsel zu sehen?
Und ich frage mich, was Gretl empfand, als sie Folgendes hörte: Als Alma Mahler ein Munch-Gemälde aus ihrem Besitz wiederzuerhalten versuchte, war eine der wichtigsten Zeuginnen für die österreichische Regierung Paul Hamburgers Witwe Fely, die sich auf ihre auch während des Krieges andauernde Beziehung zu Moll bezog, um zu argumentieren, dass er es keinesfalls gestohlen, sondern in gutem Glauben gehandelt habe. Noch neugieriger wäre ich auf Gretls Reaktion gewesen, als Fely den Kunsthistoriker Bruno Grimschitz heiratete, der zwar als einer von wenigen Österreichern aller seiner öffentlichen Ämter enthoben wurde, weil er sich politisch so sehr kompromittiert hatte, 1957 aber wieder als Professor an die Universität Wien berufen wurde. Was dachte Gretl darüber, dass Fely zuerst Paul Hamburger vor dem Holocaust bewahrt und dann einen rehabilitierten Nazi geheiratet hatte?
Eine Rückkehr lag für Gretl außerhalb des Möglichen, nicht einmal als Touristin. Zu vieles von dem, was ihr fehlte, war zerstört oder in alle Winde zerstreut worden. Und Österreich war zu weit entfernt. Doch was sie im Leben tat, war die eine Sache, im Tod eine andere. So wie ihr Cousin nach seinem Tod in Neuseeland im
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