Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
zum ersten Mal dem Weihnachtsfest in der Wohllebengasse beiwohnte. Gretl meinte, da Anne ja unfähig sei, ihre Gefühle zu verbergen, könne man ihre Einstellung sicher an ihrem Gesicht ablesen, selbst wenn sie nichts sagte. Auch wenn Eric sich nicht äußere, so warnte sie, würde er äußerst sensibel darauf reagieren, dass sie mit dem jüdischen Glauben nichts zu tun haben wolle, schließlich sei er als Jude erzogen worden. Sie wies Anne zurecht, man solle sich nie über die Religion oder den Glauben anderer Menschen lustig machen.
Es nützte nichts. Anne war unfähig, ihre Animosität gegenüber Edward aufzugeben oder zu verbergen, ebenso wenig wie er seine Abneigung gegen sie zu kaschieren vermochte. Erics Tante Mira trug zu Annes Fremdheitsgefühl noch bei, indem sie sie beharrlich mit Sie statt mit Du ansprach, als gehöre sie immer noch nicht zur Familie. In den nächsten paar Jahren verbrachten Eric und Anne Ostern mit Gretl und Kathe und Pessach mit den Bonyhadys. Doch es waren immer peinliche, wenn nicht unangenehme Anlässe, und so ging nach ein paar Jahren Eric ohne Anne zu den Pessachfeiern seiner Familie. Inzwischen war klar, dass bei allen Ähnlichkeiten ihre Ehe eine sehr gemischte war.
Ihr erstes Haus brachte noch mehr Spannungen mit sich. Ganz nach der Gallia-Tradition beschäftigten sie einen Architekten. Anne ließ zudem Möbel von einem Designer entwerfen, George Korody, ebenfalls ein Flüchtling, der inzwischen zur australischen Design-Avantgarde gehörte; er kombinierte oft Vitrolite, ein schwarzes, undurchsichtiges Opalglas, mit hellen australischen Hölzern, etwa Coachwood. Als aber Erics Eltern sie fragten, welches Hochzeitsgeschenk sie gerne hätten, und sie sich eine Schlafzimmereinrichtung von Korody wünschten, gingen die Bonyhadys zu einem anderen Designer, wieder ein Flüchtling, Paul Kafka, dessen Arbeiten völlig anders waren. So wie Norbert Stern entsetzt war, als Moriz in der Verlobungszeit von Norbert und Gretl darauf bestand, dass Josef Hoffmann die Wohnung in der Unteren Augartenstraße einrichten sollte, so hasste nun Anne die dunkel gebeizten Walnussmöbel, die ihre Schwiegereltern ihr aufdrängten. Nach der Trennung behielt Anne die Korody-Möbel, außer dem Schreibtisch, den Eric benutzte, während er die Kafka-Möbel nahm.
Die Schwangerschaft ließ alles akut werden, was Anne und Eric über ihre jeweiligen Religionen nicht ausdiskutiert hatten. Anne wollte das Baby katholisch taufen lassen, um ihre jüdische Herkunft zu verschleiern und es gegen ein Wiederaufflammen des Antisemitismus zu schützen, Eric wiederum hatte Angst vor der Reaktion seines Vaters. Paul Herschmann hatte trotz Gretls Widerstand beschlossen, dass Anne Jüdin sein sollte, nun bestand Anne darauf, dass Bruce Katholik wurde. Zu dessen Taufe drei Wochen nach der Geburt im März 1954 betrat der dreißigjährige Eric wahrscheinlich zum ersten Mal eine Kirche. Und es war mit hoher Wahrscheinlichkeit sein erster christlicher Gottesdienst.
Anne und Eric begannen den Tag mit einem Besuch bei Gretl und Kathe, die zur Feier von Bruces Taufe ein Sparkonto für ihn eröffneten, auf das sie fünfzig Pfund einzahlten. Dann gingen Anne und Eric mit Kathe, die Bruces Patin war, in die katholische Kirche in Mosman. Als der Priester sie beharrlich ausfragte, da er sie nicht kannte und ihre Verbundenheit zur Kirche bestätigt haben wollte, logen sie. Der Priester wollte wissen, wo sie wohnten, er erwartete offensichtlich, sie würden Pfarrkinder werden, und so gaben sie als Adresse die Wohnung in Cremorne an statt ihr eigenes Haus in Chatswood. Dann fragte er, wo sie geheiratet hatten, und hier nannten sie St. Mary’s, die katholische Kathedrale von Sydney, statt das Standesamt. Nach der Rückkehr nach Chatswood hatten sie am Nachmittag einen fürchterlichen Streit.
Welche Religion ich haben sollte, kümmerte Anne weniger. Doch da Bruce getauft worden war, sollte ich es auch, entschied sie. Wieder musste Eric sich fügen, wieder wagte er nicht, es seinen Eltern zu sagen, wieder wurde Kathe Patin. Und wieder spürte der Priester einen Mangel an Überzeugung und stellte Fragen. »Wer bringt denn so ein altes Kind?«, rief er, als mich Anne und Eric im Dezember 1957, ich war bereits drei Monate alt, in die Kirche brachten. Kathe machte die Sache noch ärger: Als der Priester sie ersuchte, das Vaterunser zu beten, verfiel sie angesichts der angespannten Stimmung ins Deutsche, worauf er sie aufforderte, es auf Englisch
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