Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
Publikum kein Interesse besitze – eine der ärgsten Fehlentscheidungen eines australischen Museumsdirektors.
Das eindringlichste Zeugnis, wie Anne Österreich und Australien sah, findet sich in den Briefen, die sie ab 1943 an George Turner schrieb. Der erste Brief verrät ihre Bestürzung, dass George sich nicht bei ihr gemeldet habe, während er in Australien interniert war. »Ich hätte weinen mögen, dass ich nichts davon gewusst habe«, schrieb sie. »Niemand, kein einziger meiner alten Freunde ist hier herüben, fünf Jahre habe ich keinen gesehen, und dann höre ich, dass ein alter Freund ganz in der Nähe war – und ich habe ihn nicht gesehen –, das macht mich ganz elend.« Trotzdem beschrieb sie es als »wunderbares Erlebnis«, von George zu hören, und antwortete umgehend und ausführlich. In den nächsten dreißig Jahren unterhielten sie einen regelmäßigen Briefwechsel und schrieben einander über lange Strecken hinweg jeden Monat. Sie behielt nur seinen ersten Brief, typisch für sie, da sie immer wieder ihre Besitztümer wegwarf. Er hingegen hatte alle ihre Briefe aufgehoben, bis ich ihn 2004 besuchte, während ich an diesem Buch arbeitete; dann vertraute er sie mir an, nachdem er sie in chronologische Abfolge gebracht und noch ein letztes Mal gelesen hatte.
Annes höchstes Lob für Australien lautete, dass man dort »angenehm leben« könne. Sie schätzte den materiellen Wohlstand, das reiche Lebensmittelangebot und die kurze Arbeitswoche. Sie genoss die viele Sonne, die schönen Strände, die Unbeschwertheit und das Vergnügen, in einer Felslagune am Rand des Hafens zu schwimmen, nur wenige Minuten Gehweg von der Wohnung in Cremorne entfernt. Den höchsten australischen Berg, Mount Kosciuszko, fand sie »sehr schön«, betonte aber, das sei »natürlich« nichts gegen die österreichischen Alpen. Das »niedrige kulturelle Niveau« in Sydney fand sie bedrückend. »Kunstschätze gibt es nur als Reproduktion«, klagte sie, nachdem sie die Kunstgalerie von New South Wales besucht hatte. »Gute Konzerte, Theater, Oper, solche Sachen sind praktisch unbekannt.« Sie erwartete nicht, dass Sydney sich einen Konzertsaal zulegen würde, wegen der »Lethargie, die hier herrscht«.
Die gelegentlichen Gastspiele europäischer Musiker vermochten wenig an ihrem Gefühl zu ändern, dass sie hier viel entbehren müsse. Als Ende 1948 eine italienische Truppe nach Sydney kam, ergriff sie die Gelegenheit, zum ersten Mal seit Wien eine professionelle Opernaufführung zu sehen; sie besuchte neun der vierzehn Opern, die im Repertoire waren, hatte aber Lust auf mehr: »Wer weiß, wann es in diesem Land wieder eine Oper zu sehen gibt.« 1954 kamen die Wiener Sängerknaben auf Tournee, und sie sah sie viermal, obwohl sie ständig müde war; Bruce war erst drei Monate alt. Beim nächsten Besuch des Chors 1959 ging sie wieder und nahm den fünfjährigen Bruce mit. »Das war mein erstes Konzert, als ich ein Kind war, und jetzt nehme ich Bruce mit«, berichtete sie George, »obwohl er noch ein bisschen klein dafür ist.«
Der Film »Der dritte Mann« nach dem Drehbuch von Graham Greene mit Orson Welles gab ihr die seltene Gelegenheit zu sehen, was aus ihrer alten Heimat geworden war. »Ich würde so gern ein paar Ansichten von Wien sehen«, schrieb sie, als er 1949 in England Premiere hatte. Sie wusste, sie würde warten müssen, da es Monate dauerte, bis britische Filme Australien erreichten; als dann »Der dritte Mann« 1950 in die Kinos kam, war sie beeindruckt von der preisgekrönten Kameraführung, doch enttäuscht, wie wenig er von der Nachkriegsstadt zeigte. Die berühmteste Szene des Films, die im unterirdischen Kanalnetz spielt, dauert nur einige Minuten, doch sie machte solchen Eindruck auf sie, dass sie wünschte, der Film »hätte mehr von Wien gezeigt als den Kanal«.
Ihre Ängste und Befürchtungen ebenso wie ihre Anhänglichkeit an Gretl und Kathe und ihre Beziehung zu Eric verhinderten eine Rückkehr. Nachdem George das erste Mal nach dem Krieg Wien besucht hatte, fragte sie, was geschehen war, wenn er Männer traf, von denen er wusste, dass sie für Hitler gekämpft hatten. Was sie hörte, machte sie »sehr skeptisch, ob es wünschenswert wäre, hinzufahren, sogar für einen kurzen Besuch«; als George ein Jahrzehnt später wieder hinreiste, war sie noch derselben Ansicht. »Es ist komisch, aber ich habe keine Lust, hinzufahren«, schrieb sie, wo es doch gar nicht komisch war. »Ich könnte den Leuten
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