Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
wie sorgsam man mit den Wäldern umging, ganz im Gegensatz zu der Verwüstung in Australien, wo riesige Wälder mit alten Eukalyptusbäumen gefällt wurden, um Holzschnitzel daraus zu machen. Sie fand es großartig, wie in den Wäldern und an den Waldwegen um Altaussee die wilden Erd- und Heidelbeeren wuchsen. Die Wiesen und die Luft empfand sie als herrlich. Sie beschrieb es als »einzigartig schön«.
1975 versuchte sie zum ersten Mal, Einlass in die Villa zu erhalten; ohne Voranmeldung klopfte sie an die Tür und fragte, ob sie sich ihr ehemaliges Haus ansehen dürfe. Der Mann, der an die Tür kam, ließ sie nicht hinein. Bei ihrem nächsten Besuch, 1995, wollte sie die Villa unbedingt sehen, war aber frustriert, dass die umgebenden Bäume so hoch geworden waren, dass man das Haus von der Straße aus kaum erkennen konnte. Sie ging oft rundherum, wandte sich aber nicht an die Besitzer. Als sie über diesen Besuch schrieb, wurde deutlich, wie gern sie die Villa gesehen hätte, ebenso aber ihre Unsicherheit, ob sie es noch einmal versuchen sollte. Sie schloss: »Es war eine Erfahrung. Man könnte sie wiederholen. Man muss sie nicht wiederholen.«
Zwei Jahre später unternahm sie einen neuerlichen Versuch, diesmal aber viel geschickter. Sie erschien nicht unangekündigt und unerwartet, sondern schickte einen Brief, in dem sie sich vorstellte, ein altes Foto der Villa beilegte und sich anbot, den Bewohnern etwas über deren Geschichte zu erzählen. Die Antwort kam umgehend: Man lud sie zum Nachmittagstee ein. Dieses Mal öffnete sich die Haustür, bevor sie läuten konnte, und enthüllte mehr von ihrer Vergangenheit, als sie je zu finden gedacht hatte. Als Anne sechzig Jahre nach ihrem letzten Aufenthalt im Jahr 1937 den Salon betrat, waren der Tisch und die zwölf Stühle, die Anrichten, die Standuhr, die Sessel, der Schaukelstuhl, die Bilder und goldgerahmten Stiche, die Tapeten und geschnitzten, mit vier Adlern geschmückten Lampen immer noch dieselben, ebenso wie der Flügel und die Standuhr im Nebenzimmer. Der Besitzer war ein anderer, aber diese Teile des Hauses waren auf die stofflichste Art die Villa Gallia geblieben. Als sie gegangen war, schrieb Anne am selben Tag in ihr Tagebuch: »Ich bin so glücklich«, »mission accomplished«.
Was den Besuch für Anne zum Erlebnis machte, war nicht allein der Ort, sondern die Person, Frau Wick, die mit ihrem verstorbenen Mann die Villa gegen Kriegsende gekauft hatte. Das bedeutete, und dies war ausschlaggebend für Anne, dass sie an dem Zwangsverkauf durch Mizzi 1940 nicht beteiligt gewesen war; für Frau Wick wiederum war es genauso wichtig, dass die österreichische Gesetzeslage für Anne keinen Weg vorsah, die Villa wiederzuerhalten, und dass sie auch keinen Anspruch darauf erhob. Je länger sie sich unterhielten, desto verblüffter war Anne, wie viel sie gemeinsam hatten. Sie erzählten einander von ihren Familien. Sie redeten über das Altwerden. Sie sprachen über den Krieg und die aktuelle österreichische Politik, darunter den Aufstieg Jörg Haiders und seiner Freiheitlichen Partei, die sie als neonazistisch bezeichnete. Nachdem Anne nach Australien zurückgekehrt war, wechselten sie Briefe und riefen hin und wieder an. Diese Freundschaft war die einzige, die Anne bei ihren vierzehn Besuchen in Österreich geschlossen hatte. Mit Österreich hatte sie sich nie versöhnt, mit Frau Wick war es ihr möglich.
Ich war dabei, als Anne bei ihrem letzten Österreich-Besuch 1998 Frau Wick aufsuchte, nicht nur, um die Villa zu sehen; Anne wollte ihr meinen Sohn Nicholas, meine Lebensgefährtin Claire und mich vorstellen. Kurz bevor wir gingen, trat Frau Wick an einen Schrank und nahm drei Kaffeetassen und zwei Untertassen heraus; das sei das letzte Porzellan, das von der ursprünglichen Einrichtung der Villa noch existiere. Zuerst war ich etwas verlegen, dass Frau Wick Anne diese Überbleibsel gab, wusste ich doch, sie würde sie einfach neben den vielen anderen, weit eindrucksvolleren Sachen, die einmal Hermine gehört hatten, in ihrer Anrichte verstauen. Dann verstand ich. Die Tassen und Untertassen waren ein Stück private, persönliche Reparationszahlung. Zum ersten Mal hatte Anne eine echte Restitution durch Österreich erlebt.
Ein paar Monate später kam in Canberra ein Päckchen an. Darin befand sich eine Wachspuppe, die in Annes Kinderzeit im Salon auf dem Flügel gestanden war. Nach ihrer Rückkehr hatte sie Frau Wick nach dieser Puppe gefragt. Da offenbar
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