Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
man die Wohnung besucht und die Leute gekannt habe. »Sie haben Recht«, entgegnete Mizzi stolz. »Ich war mit dem kleinen Jungen da über fünfzig Jahre verheiratet.« Doch trotz dieses Zugehörigkeitsempfindens fühlte sich Mizzi dem Inhalt der Ausstellung auch fern. Sie sagte gerne, wie seltsam sie es finde, dass sie, nachdem früher Hermine von ihr verlangt hatte, in die Wohllebengasse zu Besuch zu kommen, nun zahlen musste, um die Wohnung in der Galerie zu sehen.
1992 dachte Anne, die Sache mit Wien sei abgeschlossen. Nachdem sie siebenmal in 21 Jahren dort gewesen war, meinte sie: »Falls nicht irgend etwas mit dem Familiengrab passiert, wofür ich mich verantwortlich fühle, habe ich keine Lust mehr, Wien noch einmal zu sehen.« Doch Bruce lebte in England, und sie wollte ihn besuchen, und wenn sie schon dort war, fuhr sie auch nach Wien. Das Resultat war, dass sie öfter hinkam als je zuvor, bis 1998 jedes Jahr, obwohl sie niemanden mehr zu besuchen hatte, seit Anni Wiesbauer gestorben war. Wo der Romancier Hugo Bettauer sich 1923 Wien als »Stadt ohne Juden« vorgestellt hatte und die Nazis daraus Realität hatten machen wollen, wurde es für Anne nun eine Stadt ohne Menschen. Sie lernte auf ihren Reisen ein paar deutsche Freunde kennen, die sie zu Ausstellungen begleiteten, sie nachhause einluden und mit ihr Ausflüge unternahmen, in Wien aber schloss sie keine solchen Bekanntschaften. Die Tage dort verbrachte sie damit, in Kunst, Musik und Theater einzutauchen; außerdem unternahm sie die obligatorische Wallfahrt auf den Hietzinger Friedhof. Dort entdeckte sie, dass etliche andere Flüchtlinge nach Wien zurückgekehrt waren, um sich hier begraben zu lassen, doch sie war nach wie vor verärgert über die Entscheidung Gretls und Kathes, das ebenfalls zu tun, wo doch Australien ihnen »Zuflucht und Güte« geschenkt hatte.
Andere Flüchtlinge besuchten die Wohnungen ihrer Kindheit höchstens einmal, Anne aber kehrte immer wieder in die Wohllebengasse zurück. Jedes Mal freute sie sich, wenn die Angestellten der russischen Versicherungsgesellschaft sie willkommen hießen. Jedes Mal konzentrierte sie sich auf die immer neuen Änderungen in der Wohnung, statt darauf, dass sie im Wesentlichen intakt geblieben war, sodass man immer noch die Hoffmann-Möbel in exakt dieselben Stellen hätte einfügen können, die Hoffmann für sie geschaffen hatte. Sie bemerkte, dass die Wohnung, die sie 25 Jahre lang immer wieder aufgesucht hatte, kein Ort mehr war, der ihre Erinnerungen wachrief, sondern einer, in den hinein sie sie projizierte. Es war ihr immer noch wert, aufzuzeichnen, dass sie sich dort nicht hingehörig fühlte.
Österreichs Art und Weise, seine Vergangenheit darzustellen, beschäftigte sie nach wie vor. Das Denkmal gegen Krieg und Faschismus – das erste größere Mahnmal in Wien, das sich in gewisser Weise auch mit dem Holocaust befasste – war ein Beispiel. Beinahe alles daran war umstritten, als es 1988 zum fünfzigsten Jahrestag des »Anschlusses« errichtet wurde. Rechtsgerichtete Gruppen hielten den Standort zwischen Albertina und Staatsoper für zu prominent, Linke griffen es an, weil gefallene österreichische Soldaten, zivile Opfer der alliierten Bombenangriffe und Juden alle gleichzeitig thematisiert wurden. Anne fiel etwas anderes auf. Wie in ihrer Familie seit jeher üblich, kaufte sie lieber Ansichtskarten, als selbst zu fotografieren; es verblüffte sie, dass es keine Karten von dem neuen Denkmal gab. Nachdem sie eine Ausstellung über das Ausseerland in der Nazizeit gesehen hatte, war sie gespannt auf den Katalog und bestellte ihn von Australien aus, ärgerte sich dann aber sehr darüber. Er führte 29 Häuser in Altaussee und dreißig in der unmittelbaren Umgebung an, die Juden gehört hatten, widmete dieser Gruppe aber bloß eine Seite. Die Personen, die von der Arisierung der Häuser profitiert hatten, waren nicht namentlich angeführt – außer Goebbels, der ohnehin ein solches Scheusal war, dass sein Ruf nicht mehr leiden konnte. Über das Schicksal der ursprünglichen Besitzer wurde kein Wort verloren.
Dennoch wusste Anne Altaussee zunehmend zu schätzen, während ihr der Großteil der australischen Landschaft immer fremder wurde. Obwohl sie meinte, in ihrer Jugend jedes Jahr nach Altaussee gefahren zu sein, sei »ein bisschen viel«, und die Berge hätten ruhig etwas höher sein können, sah sie allmählich ein, »warum man es dort schon einige Zeit aushält«. Sie bewunderte,
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