Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
Falls er geglaubt hätte, die Vereinbarung zwischen ihm und Anne sei bindend, dann hätte er Fischer sagen können, dass er zu spät dran sei. Das tat er aber nicht. Laut Leopolds eigener eidesstattlichen Erklärung war es so: »Ich sagte nicht, wer ich war. Ich glaube, er hielt mich für einen Haushaltsangehörigen. Er bat mich, etwas auszurichten ...: Sagen Sie ihr, sie soll mir ein Telegramm schicken oder lieber noch in London anrufen, ich übernehme die Kosten.« Das Affidavit enthält keine Entschuldigung für diese Hinterlist. Ganz im Gegenteil, daraus geht klar hervor, dass Leopold immer schon gewusst hatte, dass sie auch mit anderen potenziellen Käufern verhandelte; er hingegen sah diese Episode als Gelegenheit, Anne über Fischer auszufragen. »Ich sagte: ›Haben Sie eine Vereinbarung mit ihm geschlossen?‹ Das verneinte sie. Sie sagte: ›Ich habe nur mit ihm korrespondiert.‹ Sie meinte, sie würde ihn nicht anrufen, aber ihm schreiben und ihm mitteilen, dass sie die Bilder nicht verkaufen werde.«
Fischers Version der Geschichte war einfacher. Leopold und er hätten sich einen Wettkampf »um eine Sammlung geliefert, die im Besitz einer nach Australien geflohenen Österreicherin war. Eines Tages rief ich in Australien an, um nachzufragen, ob mein Angebot akzeptabel sei. Ich glaubte, ihr Sohn wäre am Apparat, der sagte, seine Mutter sei nicht erreichbar.« Fischer dachte nicht weiter darüber nach, was vor sich gegangen war, bis ihn viel später Leopold fragte: »Haben Sie nicht die Dame angerufen?« Als Fischer bejahte und meinte, er habe aber bloß den Sohn erreicht, erwiderte Leopold: »Sie irren sich. Sie haben mit mir gesprochen.« Leopold erzählte diese Geschichte aus starkem Konkurrenzdenken heraus. Einer seiner Hauptrivalen sollte erfahren, dass er ausgetrickst worden war; nicht klar war ihm, dass Fischer sich revanchieren und die ganze Sache Judith Dobrzynski erzählen würde, die diesen Bericht in der
New York Times
als ein wesentliches Beispiel dafür wiedergab, wie weit Leopold gehen würde, um seine Sammlung zu erweitern.
Restitution
NICHT NUR DIE Gegenwart, auch die Vergangenheit zog Anne immer wieder nach Österreich. Bei ihrer zweiten Reise, 1973, besuchte sie wieder das Haus in der Wohllebengasse, das inzwischen einer russischen Versicherungsgesellschaft gehörte. Sie ging aufgeregt und nervös hin, nicht weil sie eine Ahnung davon hatte, dass es der »Roten Versicherung« gehörte und für Spionagezwecke benutzt worden war, wie das
Time Magazine
recherchiert hatte, sondern weil sie unsicher war, wie man sie aufnehmen würde. Sie konnte ihr Herz klopfen hören, als sie anläutete, eintrat und sich einer Sekretärin vorstellte, die den Chef holte. Als er sie herumführte, war sie wieder bloß an den Änderungen interessiert: So war etwa die Tür zwischen dem Vorraum und dem Rauchsalon zugemauert worden, viele der Hoffmann-Türklinken hatte man entfernt, und aus ihrem Schlafzimmer war ein Spülzimmer geworden.
»Wien ist so herrlich wie eh und je«, meinte sie ein Jahr später, nur um binnen einer Woche »genug von Wien« zu haben. Sie besuchte das Haus in der Landstraßer Hauptstraße, wo sie mit Gretl gelebt, und suchte das Haus in der Rechten Bahngasse, in dem Kathe gewohnt hatte, war sich aber nicht sicher, ob sie das richtige gefunden hatte. Sie suchte nach ihrer Lieblingslehrerin Ilse Hornung, entdeckte, dass sie immer noch in derselben Wohnung lebte, und läutete an der Hausglocke. Als sich niemand meldete, ging sie sogar nach oben, um nachzusehen, ob wirklich keiner da war, und fragte sich dann, was das alles sollte. Was hätte sie gesagt, wenn Ilse zuhause gewesen wäre? Hätte sie ihr ins Gesicht geworfen, dass sie ein Nazi gewesen war?
Der schlimmste Augenblick für Anne kam 1975, als Gretl starb, während sie sich gerade in Europa aufhielt. Sie entschied, nicht so bald wie möglich nach Australien zurückzukehren, sondern am Hietzinger Friedhof zu sein, wenn Gretls Asche im Familiengrab beigesetzt werden sollte. Das einzige Begräbnis, dem sie hier bereits beigewohnt hatte, war das von Hermine gewesen, 39 Jahre zuvor, und sie war in einer langen Prozession gegangen. 1975 war Anne der einzige Trauergast. So wie Hermine sich für vollkommen verlassen, ja für gottverlassen gehalten hatte, als sie zum ersten Mal allein ins Theater ging, so fühlte sich nun Anne, mit unendlich mehr Anlass. Auch sie beschrieb sich als »mutterseelenallein«.
Ihre Einstellung gegenüber
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