Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
ihrem Erbe blieb höchst ambivalent, auch als die National Gallery of Victoria Vorbereitungen für eine Ausstellung der Sammlung Gallia traf. Manchmal beantwortete sie bereitwillig Terry Lanes Fragen, dann wieder nicht. Dasselbe galt, als es darum ging, die paar Objekte, die sie noch besaß, als Leihgabe zur Verfügung zu stellen. Sie unternahm bereitwillig eine ihrer Reisen nach Wien, um Lane die Wohnung näher beschreiben zu können, machte aber deutlich, dass sie nicht mit der Ausstellung in Verbindung gebracht werden wollte. Als diese näher rückte, bekam sie Angst und zog ihre Unterstützung zurück, worauf sie einen besorgten Brief des Galeriedirektors Patrick McCaughey erhielt. Er schrieb, er sei überrascht von Annes Reaktion; die Galerie habe immer erwartet, dass die Ausstellung »für Sie ein Anlass des Stolzes« sein werde. Woran ihr mehr lag: Er versprach, die Galerie werde ihre Anonymität wahren. Ganz anders empfand Mizzi, verwitwet, seit Erni kurz vor Gretl und Kathe gestorben war, die Tatsache, dass ihre Vergangenheit öffentlich zur Schau gestellt werden sollte. Entzückt lud sie Lane zum Tee ein, sodass er sie mit Fragen löchern konnte. Seine Notizen verraten, wie bemerkenswert genau sie sich an Stoffe, Farben, die Verwendung bestimmter Objekte und an Räume erinnern konnte. Doch sie lieferte auch Beispiele dafür, wie trügerisch Erinnerung sein kann. Als sie Erni 1920 kennengelernt hatte, war Hermine Gesellschafterin der Wiener Werkstätte gewesen; es war weniger als ein Jahr her, seit Erni im Vorstand der Werkstätte, und weniger als zwei Jahre, seit Moriz Vorsitzender des Aufsichtsrats gewesen war. Solche Informationen waren für Lane essenziell, doch Mizzi hatte sie einfach vergessen.
Die Ausstellung im Jahr 1984 war die erste weltweit, die eine Abfolge von Hoffmann-Räumen nachbildete. »Wien 1913« bestand zwar hauptsächlich aus der Sammlung der Galerie, zeigte aber auch den Klimt aus London. Patrick McCaughey beschrieb sie so: »Es war eine außerordentliche Ausstellung. Terry Lane ließ das Publikum durch die Eingangstür der Wohnung eintreten, wo Madame Gallia, glitzernd in Klimts silbrigem Weiß, sie begrüßte. Die Ausstellung war Raum für Raum gestaltet, untermischt mit korrespondierenden Objekten der Wiener Werkstätte ... Sie ließ die Wiener Vorkriegsatmosphäre zwischen Secession und Moderne, zwischen Dekadenz und Innovation physisch wiederauferstehen ... Sie ließ die Vorstellung glaubwürdig erscheinen, die National Gallery of Victoria sei das Metropolitan Museum Australiens, sie könne Werke sammeln, an die kein anderes Museum herankommt.«
Anne war vollkommen verblüfft. Lane hatte sich zwar beim Restaurieren der Möbel teilweise auf ihre Erinnerungen gestützt, doch sie war sprachlos, wie sehr sich die Sachen verändert hatten. Nach Jahren so vielen Vinyls erstaunten sie die Seiden-, Woll- und Lederbezüge der Stühle. Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass sie jemals so außergewöhnlich gewesen waren oder wieder sein konnten. Sie wollte zwar immer noch ihre Anonymität gewahrt wissen, zeigte aber ihre neu entstandene Bindung an die Sammlung, indem sie die erste einer Reihe kleiner jährlicher Schenkungen an die Galerie machte. In ihrem Gratulationsschreiben an Lane erklärte sie: »Ich bin sicher, die Sachen haben nie so schön ausgesehen wie in Ihrer Ausstellung.«
Ganz nach ihrer Art war Mizzi überschwänglicher. Sie besuchte die Eröffnung, kam später wieder und erklärte: »Es war ein unvergesslicher Eindruck für mich und wird es lange bleiben.« Unsicher, wie Anne reagieren würde, nahm Mizzi die Rolle der Familienvertreterin an: »Ich möchte Ihnen für die Zeit und die Mühe danken, die Sie auf die Gallias verwendet haben.« Sie ging auch darauf ein, wie die Nachgestaltung der Hoffmann-Zimmer sie über Zeit und Raum hinweg versetzt habe. »Ich erlebte wieder, wie ich vor mehr als 63 Jahren zum ersten Mal in die Wohllebengasse kam, noch vor meiner Verlobung.« Und sie schloss: »Die Ausstellung bedeutet mir mehr als jedem anderen.«
Eine von Mizzis Lieblingsgeschichten handelte davon, wie sie eines Tages in der Ausstellung war und auf dem Andri-Porträt der Gallia-Kinder Erni betrachtete, als eine Frau ihres Alters und mitteleuropäischer Herkunft, mit ziemlicher Sicherheit ebenfalls ein Flüchtling, sie ansprach. Die Galerie habe zwar allerhand getan, sagte die Frau, um die Wohllebengasse auferstehen zu lassen, doch solche Sachen könne man nur verstehen, wenn
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