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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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Geld besorgt. Er wünsche sich unbedingt, mit ihr zu sprechen. Zudem fürchte er den Klatsch, wenn sie die Verlobung lösten.
    Gretl war äußerst aufgebracht darüber, wie Norbert und Adolf mit ihrem Brief, den sie als zutiefst privat ansah, umgegangen waren, und entsetzt, dass die beiden nicht nur ihre Ungereimtheiten unterstrichen, sondern dies auch noch auf dem Original und nicht auf einer Kopie getan hatten. Es schockierte sie, dass Adolf Norbert viele Dinge von ihr erzählt hatte, die ihrer Ansicht nach nie aus dem Familienkreis hätten dringen dürfen. Sie bedauerte nur die Ungelegenheiten, die sie Moriz, Hermine und Frau Stern verursachte; auch sie würde unter dem Klatsch leiden. Doch war es nicht besser, über Norberts Wesensart Bescheid zu wissen, bevor sie ihn heiratete, als nach zwei, drei Jahren als geschiedene Frau ins Elternhaus zurückzukehren?
    Am nächsten Tag unterstützten Moriz und Hermine Gretl darin, ihre Entscheidung durchzuführen, und gaben alle Geschenke Norberts zurück, die sie in Altaussee dabeihatte: ihren Verlobungsring, einen Ring mit Perle, zwei Broschen, einen Anhänger mit Halskette, zwei silberne Körbchen, zwei Emaildöschen, eine seidene Tasche, eine Puppe, einen Osterhasen, zwei Holzkästchen, einen Stich, eine gerahmte Fotografie, ein Notizbuch, einen Kalender, sechs Bücher und den »Haßgesang gegen Italien«. Das alles füllte eine große Schachtel, die Gretl an Norbert in Wien schickte. Inzwischen war ein Päckchen von Norbert in der Post, es kam am folgenden Tag in Altaussee an. Darin waren sein Verlobungsring und ein Brief, in dem er sie von ihrem Gelöbnis entband; er schrieb, weitere Erklärungen und Vorwürfe seien sinnlos, wünschte ihr von Herzen Glück und entbot die besten Grüße an ihre lieben Eltern und Schwestern. »So musste also meine 1. Liebe enden«, schrieb Gretl später am selben Tag. »Gott allein weiß wie unendlich ich ihn geliebt habe & daß ich wenig Schuld am Ende habe. Er war’s nicht wert & hat mich nicht zu schätzen gewußt!«
    Norbert schickte Gretl nur seinen Ring, weil er dachte, sie werde auch bloß den ihren zurücksenden. Nachdem ihre Schachtel bei ihm eingetroffen war, gab er dann aber alles zurück, was die Gallias den Sterns geschenkt hatten. Er begann mit einer noch größeren Schachtel, die ein Bündel Briefe, zwei Aktentaschen, ein Schreibset, drei Mappen, zwei Bücher, eine Uhr, ein Notizbuch, einen Kreisel, ein Kissen, zwei Nadelkissen, eine perlenbestickte Handtasche und die sechs Hoffmann-Entwürfe für die Untere Augartenstraße enthielt. Ein weiteres Paket folgte, darin war ein Spazierstock mit goldenem Knauf, den Moriz und Hermine Frau Stern geschenkt hatten. Norbert versicherte jedes Paket mit tausend Kronen, einem Drittel seines Jahreseinkommens.
    Am Ende des Sommers fuhren Moriz und Hermine mit Gretl, Käthe und Lene nach Prag, wo sie, obwohl inzwischen zum Katholizismus übergetreten, umgehend mit einem jüdischen Stadtführer jüdische Sehenswürdigkeiten besuchten. Der amerikanische Schriftsteller James Huneker meinte zwar, die jüdischen Stätten in Prag solle man nur aufsuchen, »falls man zufällig in antiquarischer oder ethnographischer Stimmung ist«, doch für die Gallias waren sie die Hauptattraktion. Sie besuchten die Altneu-Synagoge, das älteste jüdische Gebäude in Mitteleuropa, und den daneben gelegenen Jüdischen Friedhof mit seinem Gewirr an alten Grabsteinen; Gretl war beeindruckt vom Grab des ersten jüdischen Regierungsrats, dessen Titel – anders als der von Moriz – erblich war. Sie besichtigten die Karlsbrücke, wo Gretl die Statue des gekreuzigten Christus auffiel, die der Prager Jude Elias Backoffen 1696 als Strafe für eine angebliche Blasphemie hatte errichten müssen. Das war eine symbolische Demütigung für alle Juden, da darauf Christus auf Hebräisch als Herr und Gott bezeichnet wurde.
    Dieser Besuch in Prag vermittelte Gretl ein neues Gefühl dafür, was es bedeutet hatte, ein europäischer Jude zu sein. Auf dem Friedhof lagen Juden, die als »Märtyrer dieses Glaubens« gestorben waren, bemerkte sie. »Zu Prag müssen grässliche Judenverfolgungen gewesen sein.« Allerdings ließ sie immer noch Ignoranz erkennen, was das Judentum betraf. Als sie zum ersten Mal mit Moriz das Grab ihrer Großeltern auf dem jüdischen Friedhof in Bisenz besucht hatte, hatten sie ganz in der katholischen Tradition, Gräber mit Blumen zu schmücken, Kränze niedergelegt. Hätte Gretl das Grab ihres Onkels

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