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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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Donner gerührt. Adolf konnte nicht verstehen, wieso Gretl einerseits ihre Verlobung lösen und sich andererseits ganz verloren fühlen könne. Ihr Brief sei typisch für das unlogische Verhalten von Frauen.
    Norbert wollte Gretl ein Telegramm schicken und die Lösung der Verlobung akzeptieren, doch Adolf riet ihm, nach Altaussee zu fahren und mit ihr zu sprechen. Norbert antwortete, er habe eine höhere Pflicht, und zwar müsse er Telegrafie lernen, das sei wichtig für die österreichischen Kriegsanstrengungen; vielleicht werde er deswegen auch nicht an die Front geschickt und schneller befördert. Adolf konterte und bot an, selbst auf Gretls Brief zu antworten; das bedeutete, dass er auf Norberts Seite stand, obwohl er selbst es wahrscheinlich so sah, als gebe er Gretl und Norbert eine letzte Chance, ihre Differenzen zu lösen. Er schlug vor, Ida und er sollten Moriz und Gretl am Sonntag in Bad Ischl treffen. Wenn Gretl Norbert noch liebte, so wie er sie, dann wäre Norbert zu allem bereit und würde alles tun, um sie wiederzugewinnen und mit und durch sie glücklich zu werden. Falls Gretl aber Norbert nicht mehr liebte, würde er sie nicht an ihr Versprechen erinnern. Wenn Norbert binnen einer Woche nichts von Gretl hörte, solle er akzeptieren, dass die Verlobung beendet sei.
    Das alles schrieb Adolf an Moriz, weil er in die 19-jährige Gretl kein Vertrauen hatte. Anscheinend erwartete er, sein Brief würde nur von Moriz gelesen werden, oder er hätte sich nicht so kritisch über sie geäußert. Doch Moriz zeigte den Brief umgehend Gretl, was ihre Entschlossenheit nur noch bestärkte. Sie war außer sich über Adolfs Einschätzung ihrer Person und wütend, dass Norbert einen ihrer Verwandten dazu gebracht hatte, sich für ihn zu verwenden. »Jetzt könnte Norbert sich so freimachen, wie es aber das Einzige war, um die Sache wieder zusammen zu leimen nach Erhalt des Absageschreibens fand Norbert nicht die Zeit herzukommen.« So wie die Lage jetzt stand, hielt Gretl ihn nicht nur für arrogant, unaufmerksam, unsensibel und launisch, sie verabscheute ihn regelrecht. »Leid tut’s mir keinen Moment«, schrieb sie, mehr denn je davon überzeugt, dass es richtig gewesen war, die Verlobung zu lösen.
    Die Briefwechsel wurden von Mann zu Mann fortgesetzt; auch diesmal wies Moriz Gretl an, ihn zu kopieren, obwohl er sich ebenso kritisch über sie wie über Adolf äußerte. In den meisten Angelegenheiten beugte Moriz sich Adolf, dem er ja seine Chancen in Wien verdankte. Nun aber erklärte er, der Brief wirke, als hätte ein Zwanzigjähriger ihn geschrieben, niemals aber ein Mann mit Adolfs Erfahrung. Moriz erinnerte ihn daran, er hätte nicht schockiert über die Neuigkeiten zu sein brauchen, er habe ihm ja von Anfang an gesagt, er sei unglücklich über Gretls Wahl. Und er gab sich selbst die Schuld daran, zu nachgiebig gewesen zu sein und sich nicht gegen die Verlobung gestellt zu haben. Er wiederholte, Gretl habe die Verlobung gelöst, nachdem sie gesehen habe, wie die Dinge stünden.
    Das Resultat, behauptete Moriz, sei das bestmögliche. Norbert sei so kleinlich, launisch und unlogisch, dass man sich nicht vorstellen könne, wie jemand glücklich mit ihm verheiratet sein könne, schon gar nicht jemand, der so impulsiv sei wie Gretl. Falls die wiederholten Streitereien zwischen Norbert und Gretl schon nicht gezeigt hätten, dass sie nicht zusammenpassten, dann der Umstand, dass Norbert keine 24 Stunden Zeit habe aufbringen können, um nach Altaussee zu kommen und mit Gretl zu sprechen. Moriz schloss, die letzten paar Tage hätten ihm mehr als genug Aufregungen gebracht, Gretl sei erschöpft, und Hermine und er würden übers Wochenende nach Mähren fahren. Kurz und gut, Moriz wollte nicht mehr über die Angelegenheit reden.
    Doch Adolf ließ sich nicht abwimmeln. Da Moriz nicht mit Gretl nach Bad Ischl kommen wollte, fuhren Adolf und Ida nach Altaussee zu einer Familienkonferenz. Zunächst analysierte Adolf Gretls Brief, den Norbert und er mit rotem Stift markiert hatten, wobei sie alle Passagen unterstrichen, die sie für unklar und verworren hielten. Dann verriet Ida, Frau Stern habe die ganze Nacht geweint und einen nervösen Ausschlag bekommen, als sie die Neuigkeiten hörte, und Norbert habe in Adolfs Büro wie ein Kind geheult. Adolf erklärte, Norbert denke zwar, Gretl habe sich seit Wochen sonderbar verhalten, doch er liebe sie immer noch; er gebe zu, dass er zu wenig aufmerksam gewesen sei und zu sehr ums

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