Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
kennen, zu wissen, dass ich nicht so schnell vergessen kann. Das liegt nun einmal nicht in meiner Natur & vergessen kann ich nur sehr schwer, wenn mir jemand weh getan hat, vor allem aber, wenn es jemand gewesen ist, den ich wirklich & von ganzem Herzen lieb habe.« Sie erinnerte Norbert an den Schmerz, den er ihr an ihrem Geburtstag zugefügt hatte, und schloss, dass sie sich beide ändern und Zugeständnisse machen müssten. Falls es noch einmal zu einer solchen Streitigkeit käme, wisse sie nicht, was geschehen würde.
Norbert mochte nicht zugeben, dass er ihr den Geburtstag verdorben hatte. Er hatte gehofft, ihren Streit abtun zu können, nun aber fragte er sich, ob das möglich sei. Ihren Schluss nahm er als Drohung, dass sie die Verlobung lösen wolle, und er antwortete mit einer Auflistung seiner Ziele; sie begann mit dem Streben nach Gesundheit, einer anregenden Arbeit, finanziellem Erfolg, beruflicher Anerkennung und Befreitsein von schweren Sorgen, und endete damit, die Sprache der Kameradschaft zu verwenden, wie es auch Gretl tat. »Last not least«, schrieb Norbert auf Englisch, wünsche er sich, »in meiner l. Frau den allerbesten Kameraden zur Wanderung durchs Leben zu haben.« Gretl dachte, das Wort Kamerad bedeute, dass sie gleichgestellt seien, aber Norbert sah das anders. »Du allein«, erklärte er, »mußt es ja am Allerbesten wissen, ob Du den Mut hast, Dich meiner Führung anzuvertrauen!«
Nachdem sie diesen Brief gelesen hatte, fiel Gretl in Ohnmacht. In ihrer Antwort zwei Tage später schimpfte sie: »Also bei Dir kommt zuerst Deine Gesundheit, Deine Berufstätigkeit, Dein Wohlstand, Deine Angesehenheit & Sorglosigkeit & erst schließlich, last not least, Deine Frau?!« Die Vorstellung, Norberts Kameradin zu sein, sagte ihr zu, falls das Ebenbürtigkeit bedeutete, aber ihm unterstellt zu sein, das konnte sie nicht hinnehmen. Norbert, erklärte sie, sei nicht die hingebungs- und rücksichtsvolle Person, die sie auf ihren Ausflügen entdeckt zu haben glaubte, sondern ein enormer Egoist, der sie nicht liebte, nicht verstand oder zu schätzen wusste. »Betrachte unsere Verlobung als gelöst!«
Gretl betonte, dass sie nach schlaflosen Nächten und mehrmaligem Lesen seiner Briefe zu diesem Entschluss gekommen sei. Sie setzte hinzu – in der Annahme, Norbert würde sonst anderes annehmen –, dass sie ihre Entscheidung »nach reiflicher Überlegung &
unbeinflusst, ganz allein
« getroffen habe, und gab auch zu, sie sei so niedergeschlagen, dass sie sich selbst kaum kenne; nachdem sie mit »Gretl« unterzeichnet hatte, wandte sie sich noch an Frau Stern: »Deiner l. guten Mutter küsse ich die Hand. Es tut mir unsagbar leid, dass auch ich ihr Kummer mache, denn ich habe sie vom ganzen Herzen lieb.« Dann schickte sie den Brief eingeschrieben ab.
Vier Tage später nahm sie ihr Tagebuch wieder auf; Moriz hatte verlangt, sie solle ihre gesamte Korrespondenz mit Norbert abschreiben. Wahrscheinlich meinte er, sie sollte in ihrem Tagebuch einen möglichst vollständigen Bericht von diesem Wendepunkt in ihrem Leben ablegen. Und vielleicht dachte er auch, dieses Abschreiben könne heilsam für sie sein, wenn sie sich mit dem befassen musste, was geschehen war. Insgesamt hatte sie fünfzehn Briefe und Karten aus den zwanzig Tagen abzuschreiben, die Norbert und sie getrennt gewesen waren, drei weitere Briefe waren noch auf der Post, da Norbert wie üblich die Nerven verloren hatte, nachdem er Gretl aufgefordert hatte, ihm zu vertrauen. Sein »süßer, lieber Schatz Gretelein« solle wissen, dass er mehr an sie denke, als ihr jemals klar gewesen sei, dass er ihre Fotografie immer bei sich trage und dass er so bald wie möglich Hoffmann treffen wolle, damit es mit der Wohnung – und mit ihrer Hochzeit – vorangehen könne. »I l.y.s.m.!«, beteuerte er in abgekürztem Englisch; »I love you so much!«
Gretl erwartete nun, dass Norbert auf den Brief, in dem sie die Verlobung löste, reagieren würde, doch die einzige Reaktion kam von ihrem Onkel Adolf, der sich auf Veranlassung von Frau Stern, die Adolfs Frau nahestand, einschaltete. Als Norbert Gretls Brief erhalten hatte, hatte Frau Stern Ida angerufen und sie am folgenden Vormittag getroffen, während Norbert Adolf in dessen Büro konsultierte. Anstatt bloß mit ihm zu sprechen, brachte er Gretls Brief mit, den Adolf eigentlich als privat hätte betrachten müssen. Stattdessen nahm er ihn unter die Lupe wie ein juristisches Dokument und war wie vom
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