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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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Wilhelm in der jüdischen Abteilung des Wiener Zentralfriedhofs besucht, dann hätte sie gewusst, dass dort wie bei vielen benachbarten jüdischen Gräbern ein Blumenbehälter war. In Prag entdeckte sie nun, dass die Juden hier eine andere Sitte pflegten, und sie schrieb es nieder, als wäre es ihr völlig neu: »Als Zeichen der Verehrung legen die Juden bei ihren Besuchen Kieselsteine auf den Grabstein.«
    Ihr Pakettausch mit »Ingenieur Stern«, wie sie Norbert nun wieder nannte, setzte sich in Wien fort; sie schickte ihm noch eine Sendung mit seinen restlichen Geschenken, weitere drei kamen von ihm mit dem Rest der ihren. Moriz und Hermine achteten unterdessen darauf, dass Gretl noch öfter ausging als sonst, damit sie beschäftigt war und erkennen ließ, dass die Sache sie nicht genierte. Auf dem Höhepunkt dieser Phase besuchte sie in acht Tagen sechs Aufführungen, darunter drei aus dem »Ring«-Zyklus Wagners. Sie etablierte sich auch wieder in ihrem ehemaligen Kreis in Wien, obwohl sie anfangs Schwierigkeiten befürchtet hatte. »Ich weiß ganz gut, dass mich Mandls, Klingers, Engels & Co. jetzt schneiden werden – Malheur!«, schrieb sie über einige jener Familien, deren Bälle sie nach dem Ende der Schulzeit besucht hatte. Doch die Einzigen, die sich so verhielten, waren die Engels, die mit den Sterns verwandt waren.
    Zufällig sah Gretl Norbert noch einmal im November 1915, als sie mit Moriz und Hermine in den Wienerwald gefahren war. Während die Gallias durch den Park in Neuwaldegg spazierten, wo Frau Stern ihre Villa hatte, trafen sie Norbert, der seine neue Infanterieuniform trug. Einen von Gretls Cousins hatte er geschnitten, als sie einander ein paar Wochen zuvor in Wien getroffen hatten, nun aber grüßte er Moriz, Hermine und Gretl. Dieser flüchtige Austausch gab Gretl noch mehr Zuversicht, das Richtige getan zu haben. Obwohl es erst vier Monate her war, seit sie einander in Altaussee zum letzten Mal gesehen hatten, kam ihr Norbert wie ein Fremder vor. »... da musste ich mich fragen, wie ich mich je in einen Menschen wie ihn habe verlieben können«, schrieb sie. »Er hat ein ausgesprochen böses Gesicht und ich verstehe schon dass man über meinen Ungeschmack viel geklatscht hat.« Es war nur einer von vielen Einträgen, in denen sie sich mit dem Glück befasste, Norbert entkommen zu sein, und sich selber zuredete, nicht mehr über den Bruch zu trauern. Ihre Ehe, schrieb sie, hätte bloß wenige Jahre gedauert. Sie hätte sie nach Steinhof gebracht, in die Wiener Nervenheilanstalt. Freunde und Familie wiederholten zudem, welche Aussichten Gretl habe, und nannten Millionäre, die sie heiraten könne. Sie betonten Norberts Eigenheiten; so sei er zum Beispiel der Einzige gewesen, der beim Begräbnis ihrer Tante Henny nicht in Schwarz erschienen war. Moriz meinte, Gretl habe wirklich Glück gehabt. Ihr Bruder Erni zeigte seine Freude, indem er sich betrank. Die einzige Ausnahme war Käthe, die meinte, Gretl habe einen ähnlichen Charakter und ein ähnliches Temperament wie Norbert; implizit hieß das, sie hätten dieselben Fehler. Solche spitzen Bemerkungen waren typisch für Käthe, aber Gretl war trotzdem schockiert. »Dass meine eigene Schwester so taktlos ist hätte ich nie gedacht!«, bemerkte sie.

Tod
    DAS GESAMTE JAHR 1918 über befand sich Österreich in einer tiefen Krise. Nicht nur ein Großteil der Truppen war unterernährt, auch die Mehrheit der Zivilpersonen. Als die Regierung Anfang des Jahres eine Herabsetzung der täglichen Mehlrationen von 200 auf 150 Gramm ankündigte, legten 10.000 Arbeiter in der Daimler-Rüstungsfabrik in Wiener Neustadt die Werkzeuge nieder und läuteten so den einzigen großen Aufstand der Arbeiterklasse in Österreich während des Krieges ein. In Wien stand alles still, als 200.000 Beschäftigte, darunter viele Büroangestellte und Handelsbedienstete, sich dem Protest anschlossen. Zwar ignorierte Gretl normalerweise politische Vorgänge, doch diesmal begann sie ihren Tagebucheintrag am 17. Jänner mit dem Wort »Streik!«
    Der Lebensmittelmangel veranlasste Hermine, sich ein Kochbuch für Mangelzeiten zuzulegen. Es war von der Zeitschrift
Wiener Mode
veröffentlicht worden, hatte einen schicken Seideneinband, verziert mit stilisierten Blütenzweigen, und sah aus, als hätte es die Wiener Werkstätte herausgebracht, ließ also nicht erkennen, dass sich Österreich im Krieg befand. Der Inhalt befasste sich eher damit, wie man weniger Mehl verwendete, als

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