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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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arbeiteten unterdessen an dem Auftrag. Emil Gerzabet, der die Bauaufsicht bei Hoffmanns spektakulärstem Gebäude – dem Palais Stoclet in Brüssel – geführt hatte, besuchte die Untere Augartenstraße, um einen Plan der Räume anzufertigen. Einen Monat später waren die Entwürfe für die Wohnung fertig. Wie üblich waren es fein ausgeführte Aquarelle, die zeigten, wie jeder Raum aussehen würde. Auf dem Bauplan stand zwar Norberts Name, als wäre der Auftrag von ihm gekommen, doch Gerzabet erkannte stillschweigend, dass das nicht so war, und händigte die aquarellierten Zeichnungen Gretl aus.
    Die Bauskizze der Küche war die einzige, die Hoffmann signiert hatte, was vermuten lässt, dass diese aquarellierte Zeichnung ganz sein Werk war. Die anderen fünf waren, wie damals für Hoffmann typisch, von einem seiner Mitarbeiter unterzeichnet. Wilhelm Jonasch war erst 23, sechs Jahre jünger als Norbert, aber er hatte sich bereits einen beachtlichen Ruf als Designer wie auch als einer von Hoffmanns Assistenten erworben. Wahrscheinlich gab Hoffmann Jonasch allgemeine Anweisungen und überließ es dann ihm, die Aquarelle auszuführen. Sie enthielten viele Elemente, etwa Rautenmuster, stilisierte Rosenzweige und runde Spiegel, die Gretl schon aus der Wohnung ihrer Eltern vertraut waren. Die Küche war viel nüchterner gestaltet als alle Räume in der Wohllebengasse; alles war weiß außer dem schwarzweiß gewürfelten Boden. Die anderen Räume waren weitaus dekorativer. Als Gretl die Zeichnungen erstmals zu Gesicht bekam, meinte sie, sie würden sie »geradezu begeistern«. Als sie sie später Norbert zeigte, schwieg er, überwältigt von Ärger und Neid, und erklärte dann, in einer solchen Wohnung könne er niemals glücklich werden. Weit entfernt davon, Mitgefühl zu zeigen, sah Gretl seine Antwort als einen weiteren Beweis, dass er ein Schwachkopf sei.
    Am nächsten Tag fuhren die Gallias in die Sommerferien nach Altaussee; Norbert fand sich am Bahnhof ein, um sich von Gretl zu verabschieden. Wie üblich brachte er Blumen und Geschenke, während sie Tränen hinunterschluckte. Bevor sie einstiegen, schlug sie noch vor, sie sollten versuchen, die Wohnung zu vergessen, bis er zu Besuch nach Altaussee käme, wo sie die Sache entspannter besprechen könnten. Eine Woche später war er dort und wohnte im einzigen großen Hotel des Ortes, während er den Großteil des Tages in der Villa Gallia verbrachte; dort fand er Gretl in einer von ihren Eltern gekauften neuen Gewandung vor: Es war ein Dirndl, wie es viele Wienerinnen bei ihren Landaufenthalten trugen. Norbert gefiel es natürlich nicht.
    Ihr erstes Gespräch über die Wohnung verlief »in Ruhe & ohne Verstimmung!«, wie Gretl überrascht und erfreut schrieb. Das nächste am 8. Juli, ihrem 19. Geburtstag, allerdings nicht. Während Norbert alles an Hoffmanns Arbeit schlechtmachte, konnte sich Gretl nichts Besseres vorstellen. »Ich liebe Prof. Hoffmann & fand sp. die Zeichnungen so schön«, schrieb sie. Als sie sich weigerte, Norberts Kritteleien zuzustimmen, beschuldigte er sie, kein Vertrauen zu ihm zu haben, und sie verließ weinend den Raum. Dass es ihr Geburtstag war, machte alles noch schlimmer. Als ihre Eltern fragten, warum sie so verstört sei, sagte sie es ihnen, ohne zu zögern. Sie wusste zwar, dass das die Opposition der beiden gegen Norbert noch beflügeln würde, aber das war ihr egal, denn allmählich überlegte sie selbst, die Verlobung zu lösen. Als es am nächsten Tag noch ärger wurde, dachte sie an nichts anderes mehr.
    »Es geschah ein Wunder«, hieß es dann im nächsten Eintrag. »Norbert bat mich um Verzeihung.« Sie hätte nicht überrascht sein müssen. Immer wenn sie gestritten hatten, hatte Norbert sich entschuldigt. Da Gretl wusste, wie sehr er es sich wünschte, ihre Wohnung zu gestalten, und wie sehr ihm Hoffmanns Arbeiten missfielen, wusste sie seine Entschuldigung besonders zu schätzen. Die zwei nächsten Tage verliefen so, als hätten sie nie gestritten. Sie unterhielten sich gut, gingen spazieren und spielten Tennis. Als Norbert nach Wien zurückkehrte, schrieb er Gretl einen Brief, den sie für seinen leidenschaftlichsten hielt, dankte ihr für die vielen schönen Stunden in Altaussee und schlug vor, sie sollten die paar Stunden vergessen, die nicht schön gewesen waren.
    In dem Wissen, wie wichtig sie war, übertrug sie ihre Antwort ins Tagebuch, was sie vorher noch nie getan hatte: »... dürftest Du mich doch schon gut genug

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