Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
und ging gelegentlich in die Graetzin-Licht-Gesellschaft, die den nachlassenden Absatz bei Gasglühstrümpfen durch den Verkauf anderer Gasgeräte wettzumachen versuchte, darunter Kocher, Öfen und Heizgeräte. Meist ging er zu Johann Timmels Witwe, einem Unternehmen mit zwei Fabriken, aber nur neunzehn Angestellten, das Liköre, Schnäpse, Punsch, Essig und Methylalkohol herstellte; er hatte es erworben, als er nicht mehr für Auer von Welsbach arbeitete. Anfang März blieb er über eine Woche im Bett. Ende März notierte Gretl täglich seine Temperatur, die beinahe ebenso oft niedrig wie hoch war.
Seine Ärzte waren die besten von Wien. Friedrich Pineles, ein galizischer Jude, stand vielen Personen aus der geistigen Elite der Stadt nahe und wurde der führende Wiener Spezialist für das Nervensystem und Drüsenkrankheiten, was ihm eine Professur an der Universität einbrachte. Otto Zuckerkandl, Chefarzt im Wiener Rothschild-Spital, teilte Moriz’ künstlerischen Geschmack. Sein Rauchsalon war von Hoffmann eingerichtet, seine Frau Amalie von Klimt gemalt worden. Zudem war er Anteilseigner der Wiener Werkstätte. Als Pineles und Zuckerkandl Moriz gemeinsam untersuchten, nahmen sie zunächst an, es handle sich bloß um ein nervöses Leiden.
Sie irrten sich. Doch auch etliche weitere Ärzte konnten Moriz’ Zustand weder diagnostizieren noch heilen. Hin und wieder hatte er bessere Tage, dann ging er kurz im Park des Belvedere spazieren, wofür er nur die Straße am Ende der Wohllebengasse zu überqueren brauchte. Öfter aber ging es ihm schlecht, dann konnte er weder aufstehen noch die Wohnung verlassen. Anfang April war er so gut wie ständig ans Krankenbett gefesselt, von wo aus er die Kontrolle über seine Unternehmen zu behalten versuchte, indem er seinen leitenden Angestellten Instruktionen erteilte, und Besuch von Freunden wie Maximilian Luzzatto, Carl Moll und dem Architekten Franz von Krauß empfing. Als Hermine und Moriz im Mai die Silberhochzeit feierten, beschränkten sie wegen seiner Krankheit die Zahl der Gäste beim Festessen auf die engere Verwandtschaft, und Moriz legte sich sofort danach wieder ins Bett. Inzwischen notierte Gretl seine Temperatur bereits fünfmal am Tag.
Zu Sommerbeginn fuhren Moriz und Hermine nicht wie üblich mit Gretl, Käthe und Lene in die Villa Gallia, sondern allein ins Kurhaus Semmering, ein Sanatorium, das Franz von Krauß einige Jahre vor der Wohllebengasse erbaut hatte. Es war ein riesiges, luxuriöses Etablissement mit Musik-, Lese-, Billard- und Spielzimmer auf fünf Stockwerken, das sich als Stätte für Winter- und Sommerkuren empfahl und Diät- sowie medizinische Behandlungen unter der Aufsicht von drei festangestellten Ärzten bot. Als Moriz und Hermine dorthin fuhren, hofften sie, Bergluft und Sonne würden zustande bringen, was die besten Ärzte Wiens nicht geschafft hatten, und es ihnen ermöglichen, den Rest des Sommers in Altaussee zu verbringen.
Doch es gab keine Heilung. Als Moriz im Sanatorium eintraf, konnte er immer noch mit fester, deutlicher Handschrift schreiben und die Firma Johann Timmels Witwe managen, indem er Hermine Anweisungen für den 23-jährigen Erni diktierte, der Urlaub von seinem Regiment erhalten hatte, um das Unternehmen zu leiten. Einen Monat später wollte Moriz nicht einmal mehr über seine Investitionen sprechen. Während Hermine und er Tag für Tag auf der Terrasse des Sanatoriums verbrachten, die einen atemberaubenden Blick auf den Semmering bot, lag Moriz in seinem Liegestuhl, die Augen geschlossen, auch wenn er nicht schlief, und wollte nur in Ruhe gelassen werden. In einem Brief an ihre Kinder gestand Hermine ein, dass er sich nie wieder ganz erholen werde.
Gretl bemerkte diese Verschlechterung, als sie von Wien aus für drei Tage auf den Semmering fuhr, um Moriz zu besuchen; ansonsten schrieb sie ihm täglich oder rief an; für ihn war das Telefon immer noch eine »wunderbare Erfindung«. Trotzdem war sie bestürzt, als er Anfang Juli in die Wohllebengasse zurückkehrte, ihn so schwach, kurzatmig und eingefallen zu sehen. Weggefahren war er mit dem Taxi, heim kam er im Rettungswagen. Bald folgten auf elende Tage fürchterliche Nächte und Krisen, in denen Moriz’ Ärzte – zwei, drei, manchmal sogar vier auf einmal, insgesamt waren es dreizehn – sich fragten, ob er überleben werde. Es war »furchtbar«, schrieb Gretl, besonders da seine Ärzte sich nicht sicher waren, was ihm fehlte, außer dass sie zwei Bakterienarten,
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